Wie wär’s mit ein paar ruhigen Lese- oder Filmstunden, die etwas Zuflucht und Entspannung bieten nach lauten und hektischen Arbeitstagen ? Freitagsbloggers hat acht Lese-und und einen Filmtipp für gemütliche Wintertage zusammengestellt:
Fluchtorte von Dominique Götz
Ab in den russischen Winter
Wer dem frühlingshaften Dezemberwetter entfliehen möchte, kann in den Schneesturm von Vladimir Sorokin abtauchen. Das Winterbuch führt einen in die klirrende Kälte der russischen Steppe weit weg von der Zivilisation. Der Landarzt Gorin zwingt den Brotkutscher Kosma, ihn nach Dolgoje zu fahren. Dort will er die Bewohner gegen die schwarze Pest impfen, welche Menschen in Zombies verwandelt. Doch unterwegs verirrt sich das ungleiche Paar im Schneegestöber und erlebt allerlei Obskures. Das Buch beginnt wie eine Erzählung aus dem 19. Jahrhundert und wird zur fantastischen Irrfahrt ins moderne Russland. Der Stil des Romans erinnert etwas an den poetischen Realismus, enthält aber auch viel Surreales wie hühnergrosse Pferdchen, Riesen und Zwerge, eine Paste, die Filz wachsen lässt oder Wunderdrogen. Der Schneesturm ist eine humorvolle, wunderschöne Reise ins Herzen der russischen Erzählkunst voller hintergründiger Gesellschaftskritik.
Ab in die Bündner Berge
Wer die russische Kälte nicht erträgt, kann mit dem poetischen Tagebuch Alle Farben des Schnees von Angelika Overath das Unterengadin erkunden. Die deutsche Journalistin und bekannte Autorin lebt seit 2008 im Bergdorf Sent. Sie recherchiert die Dorfgeschichte und lernt Rätoromanisch und beschreibt in der typisch bildstarken Overath-Sprache die Landschaft und die Menschen in ihrer Umgebung. Insbesondere eben den Schnee: 19. Dezember: Skifahren. Schwerelosigkeit im Schwung. Aus einem Bergschatten herausfahren ins Licht. Helle aus Weissglut. Mit dem Schnee ändern sich die Farben. Wenn alles weiss ist, wird das Auge farbempfindlich. Schneeschatten bläulich, grau, rosa, pfirsich. Die bunten Schatten nehmen zu, je länger es weiss bleibt. Overath berichtet im Senter Tagebuch auf leise und unaufdringliche Art und Weise über ihre Arbeit als Dozentin und Schriftstellerin und über ihr Familienleben. Es ist bereichernd und spannend Angelika Overath ein Jahr lang begleiten zu können.
Ab nach Italien
Wer seinen Tränen wieder einmal freien Lauf lassen will, kann auf Amazon den Film La meglio gioventu – The best of youth – Die Besten Jahre runterladen oder die CD bestellen. Dieser italienische Kultfilm wurde in Italien ursprünglich als vierteilige Miniserie produziert. 2003 kam das herzergreifende, traurig-schöne Epos in die Kinos. Es ist eine Saga über eine römischen Familie, die sich entlang der Zeitgeschichte Italiens von 1966 bis 2003 durch die politischen und gesellschaftlichen Unruhen bewegt: Von der Reformierung der Psychiatrien, über die Terrorismus-Bewegung Rote Brigade, den Kampf gegen die Maffia, oder das Erbeben in Friaul 1976. Da sämtliche Rollen von unbekannten Schauspielern gespielt wurden, bekam der Film eine feine dokumentarische Qualität. Gedreht wurde das Glanzstück von Regisseur Marco Tullio Giordana, der damit 2003 in Cannes den Filmpreis gewann.
Hinweis: Dieser Film dauert sechs Stunden und macht süchtig. Bitte unbedingt zwei Tissues-Boxen zum Tränentrocknen und 3 Liter Wasser, um den Flüssigkeitsverlust auszugleichen, neben sich bereit halten!
Entspannendes von Jana Kilchenmann
Gegen das Fernweh
In ihrem Atlas der abgelegenen Inseln mit dem passenden Untertitel Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde beweist Judith Schalansky, dass es in unserer mobilen Welt tatsächlich noch Orte gibt, die kaum zu erreichen sind. Jeder der fünfzig Inseln widmet die Autorin eine Doppelseite jeweils mit einer Karte, gesammelten Fakten und Geschichten über Schiffbruch, Abenteurer und zwielichtige Entdecker. Doch nur wenige dieser Inseln entpuppen sich als wahre Paradiese. Viel mehr sind es karge Felsen im wilden Ozean, deren Geschichten Schalansky in ihrem faszinierenden Band erzählt. Und doch gibt man sich dem Sog dieses Buchkunstwerkes noch so gerne hin und lässt die Finger über die Landkarte gleiten.
Wieder fliegen lernen
Schon als Kind von Greifvögeln fasziniert, legt sich Helen Macdonald nach dem Tod ihres geliebten Vaters einen Habicht zu und nennt ihn Mable. Diesen Vogel zu zähmen und in seine Welt einzutauchen, hilft ihr schliesslich aus ihrer Trauer. Doch die Situation droht zu kippen, als Macdonald mehr und mehr selbst zu einem Vogel wird, schliesslich ihre Arbeit verliert und Rechnungen nicht mehr bezahlt. Am Gedenkgottesdienst ein Jahr nach dem Tod des Vaters dann die Einsicht: „Hände sind dafür geschaffen, die Hände anderer Menschen zu halten – sie sollten nicht ausschließlich als Sitzstange für Greifvögel dienen“. H wie Habicht ist ein ergreifend ehrliches und berührendes Buch und Helen Macdonalds Aufrichtigkeit beeindruckt zutiefst.
Fürs stundenlanges Blättern und Rätseln
Dieses Buch will nie wieder geschlossen werden und hat meine Vorstellung davon, was im Buchdruck möglich ist erweitert. Eine junge Studentin stösst in einer Bibliothek auf ein Buch das von Straka verfasst worden ist: einem Pseudonym. Im Buchinnern findet sie unzählige Randnotizen eines Fremden, der versucht, hinter die Identität des Schriftstellers zu kommen. Also schreibt sie diesem Fremden zurück, ebenfalls auf den Seitenrändern des Buches. Gemeinsam finden sie Dinge heraus, die bis dahin nicht einmal Straka-Forschern bekannt waren, bis sie selbst in Gefahr geraten. Und tatsächlich: Das Schiff des Theseus ist aufgemacht wie ein Leihexemplar aus einer Bibliothek (inklusive Datum-Stempel am Ende). Zusätzlich stecken im ganzen Buch Zeitungsausschnitte, Postkarten, Notizzettel und Briefe. Es ist einfach verrückt wie die Zeit beim Miträtseln verfliegt, sobald dieses Buch aufgeschlagen ist.
Die etwas anderen Lesetipps von Daniel Meister
Für (angehende) Wandervögel, USA-Fans, Abenteurer
Was bringt eine junge Frau dazu, allein, nur mit ihrem Rucksack, eine 1800 Kilometer lange Fernwanderung entlang der US-amerikanischen Westküste von der südkalifornischen Mojave-Wüste bis zum Columbia River im Norden der USA zu unternehmen? Bei Cheryl Strayed war es eine Mischung aus Flucht und Suche: Eine Flucht vor ihrer Vergangenheit und eine Suche sich selbst. Mittels vieler Rückblenden schildert die Amerikanerin in ihrem autobiografischen Erstlingswerk, wie sie sich in den Jahren vor der Wanderung immer weiter von dem Menschen entfernt hat, der sie „einmal war“. Auf 444 Seiten erzählt die Autorin die wahre Geschichte ihrer Wanderung auf dem Pacific Crest Trail und zurück zu sich selbst. Das Buch wurde 2014 mit Reese Witherspoon in der Hauptrolle verfilmt.
Für Nachdenkliche
Was ist der Sinn des Lebens? Ist das überhaupt eine seriöse Frage? Falls ja, gibt es einen allgemein gültigen Sinn des Lebens? Und wie kommen wir überhaupt auf die Idee, dass es nur einen solchen gibt? Terry Eagleton, Professor für Englische Literatur an der Universität Manchester geht in dem gemessen am Thema sehr schmalen Buch (181 Seiten) genau diesen Fragen nach. Kein billiger Lebensratgeber ist dabei entstanden, sondern ein kluges und witziges Buch, das aufzeigt, was verschiedene Kulturen und Denkschulen früher über die Frage aller Fragen dachten und auch zeitgenössische Antwortversuche von namhaften Philosophen, Naturwissenschaftlern und Kirchenvertretern skizziert. Klar und auch für Laien nachvollziehbar geschrieben und ohne den Anspruch, eine abschliessende Antwort zu liefern.
Für Fans von historischen Romanen
Leningrad, Januar 1942, mitten im 2. Weltkrieg. Die Stadt wird von Truppen Nazideutschlands belagert. In der vom Rest der Welt abgeschnittenen Stadt verhungern täglich Menschen. Diebstahl und Plünderungen sind an der Tagesordnung. In dieser Situation erhalten der der jugendliche Plünderer Lew und der junge, grossmäulige Deserteur Kolja den Auftrag, für die Hochzeitsfeier einer Majorstochter zwölf Eier aufzutreiben – eine schier unmögliche Aufgabe, doch für die beiden ist es die letzte Chance, der Todesstrafe zu entgehen. David Benioff, der vor allem als Co-Autor der preisgekrönten TV-Serie „Game of Thrones“ bekannt ist, hat mit „Stadt der Diebe“ einen mitreissenden Roman geschrieben, der von einer bildhaften Sprache und kühn gezeichneten Charakteren lebt. Es gelingt Benioff, trotz des düsteren Settings, sehr viel Heiterkeit und Menschlichkeit zwischen die Zeilen zu zaubern, so dass man das Buch auch als Coming-of-Age-Roman und stellenweise sogar als rabenschwarze Komödie interpretieren kann.