Winterliches

Über den Winter

Wer sich einmal ein paar Tage aus seinem hektischen Alltag ausklinken will, sollte Rolf Lapperts Familienroman „Über den Winter“ lesen. Die sich langsam ausrollende Geschichte über den in die Jahre gekommenen Konzeptkünstler Lennard Salm ist einerseits ein Ausflug nach Hamburg, andererseits eine Zeitreise durch die Familiengeschichten seiner Grosseltern und Eltern. Dabei bewegt sich der Hauptprotagonist verkatert, müde, durchgefroren und voller Zweifel durchs winterlich vereiste Proletarierviertel Wilhelmsburg: Ein Middle-Ager, der nach einem Grund für einen Neuanfang sucht.

Lennard Salm, ein ca. 50-jähriger Konzeptkünstler, ist ans Mittelmeer geflüchtet in das verwahrloste Ferienhaus seines Mentors und Agenten. Am Strand sammelt und fotografiert er angeschwemmte Koffer und Habseligkeiten von Bootsflüchtlingen für sein neustes Kunstprojekt. Dabei fühlt er sich ebenso verloren und heimatlos, wie das Strandgut; genauso heruntergekommen wie die Ferienhausfestung, wo er sich vor der Welt verkriecht. Die Nachricht vom Tod seiner herzkranken Schwester reisst ihn jäh aus seinem Lotterleben und er reist widerwillig nach Hamburg an die Beerdigung. Dort trifft er auf seine „immer wieder notdürftig reparierte Familienmaschine“ und versucht nach zweijähriger Abwesenheit mit seiner Verwandtschaft anzuknüpfen. Salm möchte sich um seinen hilfsbedürftigen Vater kümmern und zieht in sein altes Kinderzimmer ein, eine „finstere Abstellkammer“ voller Umzugskartone und Kindheitserinnerungen, die er vor dem Leser ausbreitet. Und somit bekommt das Buch auch psychoanalytische Züge, denn lang verdrängte Geheimnisse werden enthüllt; enttäuschte Hoffnungen seiner Mutter, der „norwegischen Schneekönigin“ und nie verwirklichte Pläne seines Vaters, dem „Vulkanforscher“, reflektieren ins Leben von Lennard Salm. Dabei geht es auch um mangelnde Mutterliebe und Salms Unfähigkeit sich mit Frauen zu binden.

„Das war er also, Lennard Salm, bald fünfzig, mit weniger Freunden als Fingern, Zeuge eines weiteren Endes eines Beginns, triumphierender Archivar seiner Niederlagen, ein ehemaliger Mitschwimmer in den Strömen zwischen New York und Miami, Kassel und Basel, ein kreativer Allesmacher und Nichtskönner, ein Blender, ein Profiteur ohne Rücklagen.“

„Über den Winter“ ist ein typischer Lappert-Roman mit den Topi der Heimatlosen und Suchenden. Wer die Klangfarbe und die Sprachbilder von Lappert-Erzählungen liebt, wird den neusten Roman verschlingen. Wer seinen bekannten Roman „Nach Hause schwimmen“ nicht mochte, wird sich auch mit dem neuen Buch schwer tun. Das beweisen die vielen gemischten Kritiken, die Lappert’s achter Roman einheimste: Von „langweilig“, „düster bis irritierend eigenwillig“, „voller männlichen Stereotypen“ oder „eine Geschichte vor einer patinierten und nostalgischen Kulisse“ wurde der Roman des Schweizer Autoren insbesondere in den deutschen Feuilletons als unwürdig für die Shortlist des deutschen Buchpreises befunden – erstaunlicherweise waren die Kritiken in den Schweizer Medien mehrheitlich positiv.

an der Alster
Die Alster in Hamburg ist in Rolf Lapperts Erzählung zugefroren.

Zugegeben, Leser, die sich gerne von Plot zu Plot hieven lassen, sind mit der atmosphärisch geprägten Erzählung schlecht bedient. Denn die Stärke von „Über den Winter“ liegt in seiner Langsamkeit und seiner Zeitlosigkeit. Die Spannung und die Ästhetik dieser Geschichte werden durch die sprachlich durchgestylten Bildmontagen erzeugt, die einem an selbst aufgenommene Videoclips erinnern. Rolf Lappert erklärte an der Lesung im Literaturhaus Basel, dass er jede Szene, wenn er sie schreibt, als Film vor sich sehe. Der Autor war früher Grafiker und dadurch erklärt sich sein detailgenaues Textdesign natürlich von selbst. Seitenlange Szenen wie in der türkischen „Änderungsschneiderei“, wo er einen dunklen Anzug für die Beerdigung kauft, sind grafisch-literarische Leseschmause: „Salm betrat eine Höhle, in der verschiedenfarbige Stoffe wie Gesteinsschichten übereinanderlagerten: gerollte und gebündelte Stoffe;…..; Stoffe, die in Bahnen aus Regalen und an gespannten Schnüren von der Decke hingen; Stoffabfälle auf dem Fussboden, die den Schritt abfederten und Geräusche schluckten, wie Schnee es tat.“

Das Buch hinterfragt auch ziemlich kritisch die zeitgenössische Konzeptkunst. Denn Salm denkt ständig über den Sinn seines künstlerischen Schaffens nach und sucht nach einer sinnstiftenden Beschäftigung. Dabei folgt ihm der Autor auf Schritt und Tritt: Salm lässt sich unter dem eisgrauen Himmel Hamburgs treiben und beobachtet die Obdachlosen, die tristen Kneipen und Internetkaffees, die muffigen Mietkasernen oder leeren Tankstellen – und das ganz im Leonhard Cohen Stil. Er beugt sich zusammen mit seinem Vater über Kreuzworträtsel am Küchentisch; er befreundet sich mit dessen Nachbarn und besucht sie in ihren altmodischen Wohnungen. Abends versumpft er dann regelmässig auf dem weichen Sofa bei seiner halsstarrigen Schwester Bille, die nicht erwachsen werden will. Dabei wird ungeniert geraucht, gekifft und getrunken. Das mag nicht jeder ertragen. Ich konnte mich jedoch gut mit den Protagonisten identifizieren und habe das Buch in drei Tagen verschlungen. Dabei sah ich vor meinem inneren Auge sehr viele Freunde, Bekannte und Verwandte, die sich parallel zu mir durch die Wechseljahrkrisen des Lebens bewegen und wie Lennard Salm mit hilfsbedürftigen Eltern, Familien-Konflikten, Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Beziehungskisten zu kämpfen haben. Und ihnen allen widme ich diese Buchrezension. Denn „Über den Winter“ ist ein grossartiges Buch für Middle-Agers, welche die unbeschwerten Jahre hinter sich haben und sich einmal mehr neu erfinden müssen.

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Rolf Lappert signiert „Über den Winter“ an der Lesung im Literaturhaus Basel.

 

 

 

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„Über den Winter“ von Rolf Lappert, Carl Hanser Verlag München 2015, 382 Seiten, 29.90 Franken

 

 

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