Unterwegs

Wenn das Leben an sich genügt

Ende August: Die Ferien sind vorbei und der Sommer neigt sich erfreulich langsam dem Ende zu. Ein langer und voller Sommer: Längst haben wir das Badi-Abo rausgeholt, Grillpartys zur Gewohnheit erhoben, unsere Haut hat nach ein paar Irrwegen ins Krebsrote doch noch eine vernünftige Bräune erreicht, die meisten Leute haben den hier in Zürich sonst ortstypischen Mir-ist-saukalt-Laufschritt abgelegt und sich einen ziemlich coolen Schlendergang angewöhnt. Kurz: Wir haben gerade die wohl schönste Zeit des Jahres verbracht und noch ist kein Ende in Sicht. Also sollten wir unbedingt noch den Moment und das tolle Wetter geniessen.

Was aber, wenn man sich beim quasi-allabendlichen BBQ plötzlich bei dem Gedanken erwischt, dass ein kalter, grauer Herbst vielleicht schon längst genervt auf seinen Einsatz wartet, wie ein spiessiger Nachbar während einer ausufernden WG-Party? Oder wenn sich aus unerfindlichen Gründen und trotz aufgebrauchtem Ferienbudget plötzlich doch noch das Fernweh regt?
Unsere Empfehlung: Auf keinen Fall weggehen, sondern sich mit einem passenden Buch in den nächsten Park legen, im Sinne einer Novemberprofilaxe nochmal kräftig Sonne tanken und für den Herbst schon mal die nächste Städtereise planen. Zum Beispiel nach Berlin. Denn Berlin ist immer gut für einen Städtetrip. Das denken sich auch die Eltern von Herrn Lehmann, weshalb sie sich bei ihm einladen.

Aber immer der Reihe nach. Berlin. Darüber hat Sven Regener einen Roman geschrieben. Den sollte man, Städtereise hin, Städtereise her, sowieso gelesen haben, mal ganz nebenbei erwähnt. Der Roman heisst Herr Lehmann. Die Hauptperson des Romans auch. Beziehungsweise: Seit Herr Lehmann langsam aber sicher auf seinen 30. Geburtstag zulebt, nennen ihn seine Freunde nur noch so, um der Tatsache Ausdruck zu verleihen, dass dreissig theoretisch ein richtig erwachsenes Alter wäre. Herr Lehmann findet diesen Spass unter Freunden weder besonders witzig noch besonders einfallsreich. Aber was will man machen: Wenn sich sowas erst mal eingebürgert hat, wird es zum Selbstläufer; da ist man dann machtlos.

Seinen Dreissigsten nehmen auch seine Eltern zum Anlass für den angedrohten Besuch. Noch etwas, was Herrn Lehmann jetzt nicht unbedingt begeistert. Dabei läuft ansonsten eigentlich grade alles ziemlich gut: Herr Lehmann ist zufrieden mit seinem Job hinter dem Tresen einer Kneipe – den er in Telefongesprächen mit seiner Mutter zu einem Geschäftsführerposten in einem angesehenen Restaurant ausbaut – er ist zufrieden mit seinem besten Freund, der bald seine erste grosse Ausstellung haben wird und dann ist da noch Katrin. Die findet er ziemlich süss; ausserdem macht sie guten Schweinebraten und sieht die Dinge grundsätzlich immer anders als er. Und es ist ja allgemein bekannt, dass sich Gegensätze anziehen.

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Kurzum, auch Herr Lehmann erlebt einen ziemlich heissen Stadtsommer. Er zieht mit einer ganzen Truppe von Freunden und Bekannten nächtelang durch Bars, erlebt Aberwitziges, Irrwitzges, Wahnwitziges. Von ihm aus könnte es für immer 1989 bleiben, denn dann spielt der Roman, aber das ist mehr oder weniger Nebensache. Was wichtig ist: Berlin rockt, Herr Lehmann ist mitten drin und viel zu vernünftig, sich um die Zukunft zu sorgen – er tut das, was wir, wären wir vernünftig, bei diesem Wetter auch tun würden: Den Moment leben. Als ihm jemand vorhält, es sei auf Dauer doch kein Lebensinhalt, Nacht für Nacht hinter einer Bar zu stehen und Leute abzufüllen, ereifert er sich: „Was soll das heissen, Lebensinhalt? Lebensinhalt ist doch ein total schwachsinniger Begriff… Ist das Leben ein Glas oder eine Flasche oder ein Eimer, irgendein Behälter, in den man was hineinfüllt, etwas hineinfüllen muss, sogar, denn irgendwie scheint sich ja die ganze Welt einig zu sein, dass man sowas wie einen Lebensinhalt unbedingt braucht. Ist das Leben so? Nur ein Behältnis für was anderes? Ein Fass vielleicht? Oder eine Kotztüte?“ Für Herrn Lehmann offensichtlich nicht. Ergo sind die einzigen Dinge, die er nicht braucht, eben Elternbesuche und runde Geburtstage, die ihn daran erinnern, dass er allmählich eben doch älter wird und alles sich ändert.

Sven Regeners Erstlingsroman hat praktisch mit seinem Erscheinen Kultstatus erreicht, über Nacht wurde er zum Bestseller. Der inzwischen verstorbene Literaturkritiker Marcel Raich-Ranicki sagte über das Buch: „Ich habe schallend gelacht. Ein hochbeachtlicher Roman.“

Mit dieser Sicht war Raich-Ranicki bei Weitem nicht der Einzige. Von überall regnete es Lorbeeren für das Werk. Zu Recht. „Herr Lehmann“ ist brechend voll mit irrwitzigen Dialogen, genial beschriebenen Charakteren und abrupten Wendungen, die in Herrn Lehmans ziemlich durchgeknallter Welt aber durchaus Sinn ergeben. Ein Feuerwerk an Kreativität, in dem die Pointen so rasch aufeinander folgen, wie die Gedanken in Herrn Lehmanns Kopf – Gedanken, in denen sich die eine oder der andere übrigens recht oft wiedererkennen dürfte.

Schade eigentlich, dass „Herr Lehmann“ 1989 spielt und der gleichnamige Protagonist damit inzwischen 56 Jahre alt wäre, so es ihn denn gäbe. Denn wäre Herr Lehmann – er heisst übrigens eigentlich Frank, Frank Lehmann – wäre Herr Lehmann nur eine Spur jünger, er wäre ein gefundenes Fressen für die Soziologen und Journalisten, die sich über die aktuelle, angeblich so ambitionslose „Generation Y“ so gerne den Kopf zerbrechen.

„Herr Lehmann“ ist das erste Buch einer Trilogie, deren weitere Teile „Neue Vahr Süd“ und „Der kleine Bruder“ inzwischen auch schon seit einiger Zeit im Buchhandel erhältlich sind. Man kann also bestens „Herr Lehmann“ als Reisevorbereitungslektüre lesen, „Neue Vahr Süd“ während des Städtetrips und „Der kleine Bruder“ als Lesesouvenir, sobald man wieder hier ist. Und jetzt: Handy weglegen, Laptop ausschalten, Sonne geniessen! Der Sommer dauert nicht ewig.

Herr Lehmann; Sven Regener, 2001 Eichborn Verlag; Ab ca. 17 CHF

Nächste Woche geht es mit Jana Kilchenmann in die Schweiz

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