Teil 2 der Trilogie: Liebeserklärungen an Basler Autoren
Text und Bilder von Dominique Götz
„Nicht nur das Jahr, auch das Leben beginnt nicht mit seinem Frühling. Mit der Explosion der Triebe und ihrem Jubel und Schmerz. Zuvor ist auch da ein Warten, ein schönes Warten oft, eins voller Ängste auch – Monster vor dem Fenster und Räuber unterm Bett -, eine Zeit ohne Zeit, denn noch ist diese unendlich.“
Urs Widmers Erinnerungsbuch beginnt mit seiner Zeugung 1937 im Lötschental – wo die Lonza die Liebenden übertönte – und endet in seinem dreissigsten Lebensjahr 1968, mit seinem persönlichen Urknall: dem Schreiben seiner ersten Geschichte. Sie endet also dort, wo die meisten Biographien beginnen. Der bekannte Autor schildert seine Kindheit in Basel, im Bruderholz und in Riehen, die Familienferien im Wallis und in La Rösa – Poschiavo. Er beschreibt seine Verwandten und erzählt ihre Geschichten, berichtet über deren Hierarchien, Streitigkeiten und: Autos. Über strenge Winter und ungeheizte Zimmer und die Märchen, die seine Eltern erzählten. Seine Kindheit war geprägt vom fröhlichen Ratschen und Trommeln der Schreibmaschine seines Vaters, einem Gymnasiallehrer, und den krankheitsbedingten Abwesenheiten seiner Mutter. Aber auch von deren Ehekonflikten. Liebevoll erinnert sich Urs Widmer an sein „Strand“- Velo, auf dem er pedalte bis es auseinanderfiel. An all die Bücher, die er las, aber auch an seine Jugendfreunde und Geliebten. Besonders wortstark schreibt er über die psychische Krankheit seiner Mutter, eine ausgezeichnete Tänzerin und Köchin, die während des 2. Weltkriegs die meiste Zeit geistesabwesend im Schrebergarten verbrachte und Selbstgespräche führte.
Das Buch berichtet auch über altbekannte Basler Institutionen wie die „Hasenburg“, ein Restaurant und früher „einer der Herzorte der Basler Fastnacht“ und Treffpunkt von eigenwilligen Charakteren. Oder über die Universität und deren Professoren, die Urs Widmer geprägt haben. Dabei kann der Autor durchaus ein wenig pathetisch werden und sagt es dann auch gleich selber. Widmers Reise an den Rand des Universums geht weit über Basel hinaus, bis nach Spanien, Griechenland und Frankreich, wo er Liebschaften und die endgültig grosse Liebe findet. Urs Widmer erzählt über Banales und Gewichtiges gleichermassen ernsthaft und mit einer gelassenen Heiterkeit, wobei er mit der Unschärfe seiner Erinnerungen lustvoll spielt. „Denn früher einmal dachte ich, dass die Phantasie nichts anderes als ein besonders gutes Gedächtnis sei. Heute glaube ich eher, dass jedes Erinnern, auch das genaueste, ein Erfinden ist.“
Er breitet seine Gedanken und Erinnerungen in einem akademischen Plauderton vor dem Leser aus, und das mit einer kunstvollen Leichtigkeit. Seine Geschichte hat er in drei Kapitel eingeteilt: drei mal zehn Jahre seiner Kindheit und Jugend von 1938 bis 1968. Dieser chronologische Rahmen legt sich um verschiedenste Lebensabschnitte, Themen und philosophische Exkurse. Bereichernd sind die drei Zusammenfassungen am Ende jedes Kapitels, wo Widmer über die Rolle der Schweiz im Weltgeschehen während der Vierziger-, Fünfziger- und Sechzigerjahre nachdenkt und uns auch ein kleines Bisschen belehrt.
Innerhalb der drei Kapitel gibt es nur Abschnitte ohne Titel. Das ist wunderbar, denn Widmer ist ein Meister kraftvoller Einleitungssätze; in jedem neuen Abschnitt holt er den Leser mit ein paar wenigen Worten ins Buch zurück. Ganz so, als sässen wir Leser im Zimmer nebenan und er würde uns zurufen: ÜBRIGENS, DANN, EIN Wort noch zu… Widmer ist ein grossartiger Schreiber und dabei beherrscht er das Jonglieren mit Satzzeichen wie kein Zweiter. Da gibt es Abschnitte in Klammer, wenn er über das Glück oder Schreibmaschinen philosophiert, immer wieder Gedankenstriche und Strichpunkte – für noch mehr Einschübe -, manchmal auch Kombinationen von verschiedenen Satzzeichen. Er benutzt all dies und auch noch die kursive Schrift ohne aufdringlich oder irritierend zu wirken. Denn er beherrscht die kreative Stilistik und Satzstruktur, die er in den Vorlesungen von Karl Jaspers so bewundert und gefürchtet hat!
Übrigens: Urs Widmer hat wie Claude Cueni eine beeindruckende Autobiographie geschrieben. Widmers Kindheit und Jugend war zwar weitaus weniger tragisch, aber dennoch gab es viele traurige Phasen. Ich finde, dass zwischen den beiden Autobiographen eine gewisse Verwandtschaft besteht. Denn beide Autoren lebten im gleichen Universum, nämlich in Basel und beide geben sehr viel Intimes preis, wobei Cueni viel weiter geht und viel exzessiver die menschlichen Abgründe ausleuchtet als Widmer. Darum ist es empfehlenswert, die „Reise an den Rand des Universums“ als Vorstufe zu lesen zur „Script Avenue“. Auch weil sich Widmers Geschichte zeitlich vor Cuenis abspielt, rund um den 2. Weltkrieg, und dort aufhört, wo Cuenis Leben Fahrt aufnimmt. Beide Basler Autoren lieben die Frauen, erzählen freizügig über ihren Sexualtrieb und ihre Zwangsneurosen. Beide bewegen sich aber gleichermassen mit Humor und ohne Selbstmitleid entlang der eigenen Lebensachse mit dem Ziel, immer wieder ein neues Universum zu entdecken. Widmer tut das etwas dezenter und diskreter als Cueni in der literarischen Anlehnung an eine Parabel oder ein Märchen und ganz im Stile eines Germanisten.
Bei all diesen Vergleichen drängt sich dann noch die Frage auf: Warum lesen wir überhaupt so gerne Autobiographien? Und je älter wir werden, desto lieber? Und am liebsten Bücher, die uns an unsere eigene Familie erinnern? In Widmers Biografie habe ich die Stimme meines Vaters und meiner Basler Verwandten wieder erkannt. Die tragischen und witzigen Geschichten meiner Grosseltern, Onkel und Tanten. Vielleicht habe ich dieses Buch darum so geliebt. Es hat mir geholfen meine Familiengeschichte ins Zeitgeschehen einzuordnen und sie besser zu verstehen. Bei Claude Cueni war es anders, ich habe die Melodie der Siebziger- und Achtzigerjahre erkannt und das hat mich angeregt, mein eigenes Leben zu reflektieren, da ich Cueni altersmässig näher stehe.
Der grosse Literat Urs Widmer hat es geschafft, trotz seinen wiederkehrenden Depressionen – der Faust, die das Herz packt, den grauen Gefühlen, dem Bleigewicht des Herzens – sehr viele Essays, Hörspiele, Radiosendungen, Romane und Theaterstücke zu schreiben. Darunter das wohl bekannteste Buch von ihm „Der Liebhaber meiner Mutter“ vom Jahr 2000 oder das Theaterstück „Top Dogs“ von 1996. Mit seinem literarischen Schaffen hat er sich im ganzen deutschsprachigen Raum einen Namen gemacht. „Reise an den Rand des Universums“ war sein letztes Buch und – wie viele Literaturwissenschaftler meinten – vielleicht sein bestes. Er hat dafür 2014, nur wenige Wochen vor seinem Tod, den Schweizer Literaturpreis gewonnen.
Seine Autobiographie ist aber mehr als nur ein Lesegenuss: es ist eine regelrechte Hymne an das Leben: seine Erzählkunst eine einzigartige Ode an die deutsche Sprache und: seine Geschichte eine leise Liebeserklärung an das alte Basel. „Es hat etwas Pathetisches, zu spüren – das Schreiben von den frühen Tagen löst jetzt dieses Gefühl in mir aus -, dass ich, auch ich, das unerbittliche Gesetz der Menschen erfülle. Auch ich brach, wie jeder und jede, einst kraftvoll ins Leben auf, lebte es und heimse heute, da die Kräfte nachlassen, den einzigen Gewinn ein, den das Älterwerden dir bieten kann: zu fühlen, dass du das Leben tatsächlich gelebt hast.“
„Reise an den Rand des Universums“ von Urs Widmer, 2013, Diogenes Verlag, 347 Seiten, 29.50 Franken