Meine Schwägerin hat mir vor einer Woche ein Buch geschenkt. Sie wollte sich für meine Gastfreundschaft bedanken, da sie aus beruflichen Gründen ein paarmal bei uns übernachtet hat. Dieses Buch, so ungefähr ihre Worte, sei wirklich das beste Buch, das sie seit langem gelesen habe. Und mir geht es genauso. Vom Ende der Einsamkeit ist der schönste Roman, den ich seit Monaten gelesen habe: Eine wunderschön-traurige Geschichte, in die man eintaucht wie in eine Wellnessoase für die Seele. Sie nimmt einen vom ersten Satz, «Ich kenne den Tod schon lange, doch jetzt kennt der Tod auch mich.», auf und beherbergt einen bis zur 355. Seite zum Satz: «Ich bin bereit.» Wells ist ein guter Gastgeber, man kann ganz einfach seinen Schilderungen folgen oder dem lebendigen Dialogen der Protagonisten lauschen.
Schiffbrüchige Waisen
In Wells Roman wirkt nichts erzwungen oder konstruiert. Es gibt nur einen einzigen Handlungsstrang, nämlich den des Hauptprotagonisten und Ich-Erzählers Jules, der als Elfjähriger Vollwaise wird. Bis dahin lebt er mit seinen älteren Geschwistern in einer glücklichen Familie in München. Nachdem seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben kommen, bringt die Tante die drei Jugendlichen in ein staatliches Internat auf dem Land, wo sie komplett auf sich gestellt sind und sich aus den Augen verlieren. In der Dorfschule befreundet sich Jules mit der rothaarigen Alva, die zu seiner wichtigsten Bezugsperson und grossen Liebe wird. Seine schöne Schwester Liz flüchtet sich in Drogen und schnelle Sexaffären, sein Bruder, «eine existentialistische Vogelscheuche», in die digitale Welt. Als Liz die Schule schmeisst, wartet Jules auf ein Zeichen: «Wie ein Schiffbrüchiger, der unermüdlich an den Knöpfen eines Funkgerätes dreht, in der Hoffnung, endlich auf eine Stimme zu stossen. Doch alles, was ich höre, ist jahrelanges Rauschen.»
Facettenreiche Beziehungsgeschichten
Diese Geschichte wäre unerträglich tragisch und unlesbar, wären da nicht Wells klare Sprache und die wunderbaren Sprachbilder, die einen in die Innenwelt von Jules führen. Durch seinen stimmigen Sprachrhythmus entwickelt Wells einen starken Sog, der zum Weiterlesen zwingt – Wells dosiert gekonnt die Satzlängen und schreibt kein Wort zu viel. Der Ich-Erzähler Jules erinnert sich vom Spitalbett aus an sein Leben «vor dem Unfall». Er spannt die chronologische Handlung über sich und seine Geschwister, Alva und den österreichischen Familienfreund Toni, über knapp vier Jahrzehnte, von München, Berlin über Berdillac bis ins Berner Oberland. Dabei dreht sich alles um Liebe, Familienbande und Freundschaft – Wells beleuchtet Beziehungen in ihren farbigsten Facetten. Durch geistreiche, aber auch witzige Dialoge beschreibt er die Schwierigkeiten seiner Figuren, sich mitzuteilen – jeder versucht seine Gefühle, Verlustängste und Zwänge zu verdrängen und zu verstecken. Der ganze Roman handelt eigentlich davon, wie die traumatisierten Geschwister mit der Unterstützung von geliebten Menschen ins Leben zurückfinden. Dieses Motiv zieht sich durch die ganze Geschichte und basiert auf dem innigen Ratschlag des verstorbenen Vaters: «Am wichtigsten ist, dass du deinen wahren Freund findest, Jules.»
Über den Tod und das Leben
Vom Ende der Einsamkeit ist nicht nur eine Liebesgeschichte, sondern auch ein Entwicklungs- und Familienroman, wo man sich selbst ab und an in der Unfähigkeit, seinen Angehörigen seine Liebe kundzutun, erkennen kann. Im Roman geht es auch um Fotografie, Musik, Literatur und ums Schreiben und darum, sich immer wieder neu zu erfinden. Wells feiert dabei das Leben und versucht das Unfassbare in Worte zu fassen: «Und dann dachte ich an den Tod und wie ich mir früher oft vorgestellt hatte, er wäre eine unendliche Weite, wie eine Schneelandschaft, über die man flog. Und dort, wo man das Weisse berührte, füllte sich das Nichts mit den Erinnerungen, Gefühlen und Bildern, die man in sich trug, und bekam ein Gesicht.»
Mehr über dieses Buch werde ich nicht verraten. Ausser, dass es eines der sehr seltenen Bücher ist, das mich je zum Weinen gebracht hat.
Vom Ende der Einsamkeit, Benedict Wells, Erstausgabe 2016 im Diogenes Verlag, Taschenbuch 2018, 355 Seiten, Preis 18.90 Fr.
Benedict Wells, 1984 in München geboren, entschied sich nach dem Abitur gegen ein Studium und begann zu schreiben. Als Sohn einer Luzernerin und eines Deutschen, lebte er selbst als Kind seit seinem 6. Lebensjahr im Internat. «Vom Ende der Einsamkeit» enthält also auch autobiografische Elemente. Der Roman stand mehr als anderthalb Jahre auf der Bestsellerliste und wurde in rund 30 Sprachen übersetzt – das Buch wurde unter anderem 2016 mit dem European Union Prize for Literature (EUPL) ausgezeichnet. Wells gilt als Wunderkind und wird insbesondere in England als Starautor gefeiert. Weitere Romane von Wells sind «Becks letzter Sommer», «Spinner», «Fast genial». Im August 2018 erschien noch ein Band mit Kurzgeschichten: «Die Wahrheit über das Lügen». Wells lebt und schreibt in Berlin und Bayern.
ZDF Video zu „Vom Ende der Einsamkeit“ mit Benedict Wells