Der Corona-Lockdown macht mich sprachlos. Wortlos. Ich kann weder schreiben noch schlafen. Zum Glück gibt es Literatur, denn das Fernsehprogramm ist jämmerlich und die Filme auf Netflix sind mir verleidet. Meine Tochter hat mir glücklicherweise eines ihrer Lieblingsbücher ausgeliehen, nämlich „Persepolis“ von Marjane Satrapi. Dies mit dem Hinweis, man könne doch jetzt all jene Bücher lesen, die zuhause im Gestell rumstehen und verstauben.
Memoiren einer Perserin
„Persepolis“ ist eine super spannende Graphic Novel und heisst übersetzt „Stadt der Perser“. Die iranische Grafik-Designerin Marjane Satrapi erzählt und zeichnet darin in schwarz-weiss ihre Kindheit und Jugend in Teheran. Die Geschichte beginnt 1979 mit der Islamischen Revolution, gefolgt vom Golfkrieg 1980 – 1988 und dem iranischen Bürgerkrieg. Marjane ist die Tochter von gebildeten Eltern und besucht eine französische Schule. Sie erzählt über das Schicksal ihrer erweiterten Familie und wie sich das Leben unter dem isalmischen Regime langsam verändert. Dabei geht es sowohl um das grosse Ganze, den politischen Widerstand und Bürgerkrieg, als auch um die Verteidigung von persönlichen Freiheiten wie unbedecktes Haar, westliche Punkmusik, Alkohol, Parties oder Kartenspiel. Lesenswert macht diese tragische Kriegsgeschichte Marjanes intelligenter und frecher Humor. Das Konzept der Graphic-Novel kommt dabei voll zum Tragen, denn durch die einfache Bildsprache sind die Schrecken des Krieges besser verdaulich. Zudem ist Marjane ein mutiges Mädchen, das sich nicht so schnell unterkriegen lässt und sich gegen die unterwürfige Frauenrolle wehrt. Tieftraurig sind die vier Jahre, die Marjane alleine in Wien verbringen muss und unter Einsamkeit und Rassismus leidet – da schwemmt gleich eine Flut von Bildern von minderjährigen, unbegleiteten Flüchtlingskinder unseren Kopf.
Iranischer Kriegsalltag versus Schweizer Corona-Lockdown
Es ist überraschend, wie viele Parallelen Marjanes Alltag mit unserem eigenen Corona-Notstand hat. So streiten sich beispielsweise zwei Iranerinnen vor halbleeren Supermarktgestellen um Lebensmittel. Es gibt Ausgangssperren, viel Sozialkontrolle und der Bewegungsradius von Marjane wird immer enger. Zudem verändert sich das Schulsystem stark. Und darum ist dieses Buch ideal als Corona-Lektüre, denn wir können uns mit den Gefühlen von Marjane identifizieren und lernen gemeinsam mit ihr, dass Freiheit ein Privileg ist. Ihre Erzählungen spenden Trost und die einzelnen Kapitel von „Persepolis“ werden zu einem fernen Zufluchtsort. Marjane schreibt in der Einleitung, dass sie dieses Buch schrieb, damit man ihre Nation nicht an den Fehlern von einzelnen Extremisten misst. Sie wollte die kultivierte Seite des Iran zeigen. Und sie möchte mit dem Buch erreichen, dass alle Iraner und Iranerinnen, die für die Freiheit kämpften und dafür im Gefängnis oder Krieg starben, nicht vergessen werden.
Familienlektüre für jung und alt
Am besten bestellt man „Persepolis“ im Buchladen gleich um die Ecke. Idealerweise in Englisch, dann können alle noch ihr Englisch aufpolieren. Die Bildsprache und das Englisch sind einfach und für alle Familienmitglieder ab ca. 14 Jahren geeignet. Für Lesemuffel gibt es auch einen Film zum Runterladen. „Persepolis“ ist auf jeden Fall eine unterhaltsame und bereichernde Lektüre für den ganzen Familienclan, auch für gelangweilte und nervige Teenager.
PERSEPOLIS von Marjane Satrapi, Vintage Book London 2008, 343 Seiten, ISBN 978-0-09-952399-4, CHF 18.90
Deutsche Übersetzung: Persepolis von Marjane Satrapi, Edition Moderne, 2019, 356 Seiten, ISBN 978-3-03731-117-2, erhältlich bei Ex Libris für CHF 24.65
FILM TRAILER: PERSEPOLIS und Persepolis in Deutsch