Italien Unterwegs

Über Mütter, Töchter und Puppen – Buchtipp zum Frauen-Streiktag

Zum Muttertag hat mir meine Tochter per Amazon den neuen Roman von Elena Ferrante «Frau im Dunkeln» geschickt. Es hätte kein besseres Buch gegeben, dass eine Tochter ihrer Mutter schenken könnte: Ferrante beleuchtet in einer sogartigen Erzählung das Seelenleben einer berufstätigen Mutter.

«Die Dinge, die wir selbst nicht verstehen, sind am schwierigsten zu erzählen.» Leda, eine fast fünfzigjährige Literaturwissenschaftlerin aus Florenz, hat etwas Unsinniges getan, über das sie mit niemandem reden will. Nun liegt sie nach einem Autounfall im Spital. Ihre Familie und Freunde denken, sie sei aus Übermüdung verunfallt. Doch es war alles ganz anders. Ferrante lässt die Hauptprotagonistin Leda schonungslos in der Ich-Perspektive erzählen, wie sie sich in einem giftigen Netz von Erinnerungen verheddert hat. Alles beginnt damit, dass Ledas erwachsene Töchter zum Vater nach Kanada ziehen. Leda kann nun wieder ein unabhängiges Leben geniessen. Sie beschliesst ihre Ferien am Meer zu verbringen und bucht eine Wohnung in einem süditalienischen Küstenort, wo sie sich mit vielen Büchern und ihrer Arbeit einnistet. Jeden Tag spaziert sie an den Strand und geniesst den Tag im Liegestuhl bis zum Sonnenuntergang. Nach einigen ruhigen Tagen stört eine lebhafte Grossfamilie ihre Ferienidylle – der Clan erinnert Leda an ihre eigene Familie.

Stumme, grimmige Frauen 

Nach anfänglicher Ablehnung beobachtet sie bald stundenlang das wilde Treiben, besonders die junge Schwiegertochter, Nina, die oft allein mit ihrer kleinen Tochter spielt, hat es Leda angetan. Im Mittelpunkt steht dabei eine schmutzige, alte Puppe, die gefüttert, gehegt und gepflegt wird. Ferrante beschreibt sehr sorgfältig, wie sich die beiden Frauen annähern. Nina bewundert die elegante und gebildete Akademikerin, die ihrerseits in Nina sich selbst als junge Mutter wiedererkennt. Und dies weckt in Leda Erinnerungen an unschöne Szenen: Beispielsweise als sie einmal versuchte, eine kurze Abhandlung zu schreiben; die Töchter spielten unter dem Küchentisch, die Sosse fürs Abendessen köchelte auf dem Herd. Alles lief rund, bis die fünfjährige Marta ihre Aufmerksamkeit suchte und ihr an den Kopf schlug. Danach begannen sich Mutter und Tochter zu schlagen, erst spielerisch, dann heftig: «Ich hatte das Schlagen unter Kontrolle, schlug sanft, doch in immer kürzeren Abständen, mit Nachdruck, keine erzieherische Massnahme, sondern echte Gewalt…» In dieser Schlüsselstelle des Buches tut sich ein Abgrund auf: Ferrante beschreibt eindringlich den Widerspruch zwischen Ledas Muttergefühlen und deren Ambitionen auf eine universitäre Karriere. Wie sie sich abgeschnitten fühlte von der Arbeitswelt und ihre Karriereaussichten schrumpfen sah: «Vor Jahren war ich eine junge Frau, die sich verloren fühlte, das schon. Die Hoffnungen meiner Jugend schienen komplett zerstört, ich hatte den Eindruck einen Rückfall zu erleben, zu meiner Mutter, Grossmutter zurück zu fallen, in die Reihe stummer, grimmiger Frauen, von denen ich abstammte.» 

Die rote Fahne 

Es ist dieses klassische Dilemma der modernen Frau, welches Ferrante in einer sozusagen brutalen Ehrlichkeit ans Tageslicht befördert – als würde sie ein Vergrösserungsglas über wunde Stellen halten. Dabei ist die Rolle der Mutter zentral: Leda denkt oft an ihre eigene Mutter. Bereits in der Einleitung, als Leda im Spital aufwacht, hört sie ihre Mutter rufen: «Leda du darfst niemals schwimmen gehen, wenn die rote Fahne weht.» Trotzdem steckt sie ihre Fussspitzen ins Wasser. Diese rote Fahne ist eine der zahlreichen Metaphern im Buch. Sie steht für die Fürsorge, die Töchter zuteilwird, aber auch den Grenzen, welche Mütter ihren Töchtern setzen. Die rote Fahne verkörpert vielleicht auch die verdrängte Angst, das zu tun, worauf wir Lust haben, wozu es uns drängt. Wir wollen etwas wagen, aber es kostet Mut und wir müssen unsere Mütter enttäuschen und zurücklassen, wenn wir eigene Wege gehen. Die Erzählung lebt von solchen Metaphern und feinen Anspielungen, welche die Abhängigkeit und Komplexität der Mutter-Tochter-Beziehung und der Mutterrolle in ihren feinsten Schattierungen ans Licht befördern. 

Hässliche Puppen

In «Frau im Dunkeln» schreibt Ferrante über die gleichen Themen, wie in ihrer vierbändigen Neapolitanischen Saga: Es geht um Ehe, Familie und Frauenfreundschaften. Den Verlauf von Ferrantes Geschichten beeinflusst jeweils eine hässliche Puppe. Dies ist faszinierend. Denn die Puppe ist ja nichts anderes als eine Metapher für ein Rollenspiel, das uns als Frauen aufgezwungen wird. Wir spielen mit Puppen bis sie auseinanderfallen. Wir bleiben unseren Puppen – Kindern – treu, bis wir es nicht mehr aushalten. Die Generation der Ledas, 50-Jährige Frauen zu denen auch ich gehöre, möchte ihr Dasein nicht zwischen Bügelbrett, Küche und Spielplatz definieren. Als meine Kinder klein waren, kurvte mein Mann auf Geschäftsreisen um den ganzen Erdball. Es war die Zeit, als ich die Kassierin im Coop um ihre Arbeit beneidete. Ich fühlte mich verloren und von der Welt ausgeschlossen, darum hat mich die zwischen Egoismus und Selbstzweifel schwankende Leda auch so berührt. 

Elena Ferrante hat eine spannende Geschichte erschaffen, die das Unaussprechliche in einer grossartigen Sprache in Worte fasst. Dank der süditalienischen Szenerie und dem versteckten Humor ist «Frau im Dunkeln» trotz aller Widerwärtigkeiten ein Lesegenuss. Die Plots der Geschichte sind überraschend und absurd bis verstörend realistisch. Der Roman bietet feministische Literatur vom Feinsten für alle Frauen, die streiken und alle Frauen, die nicht streiken. 

«Frau im Dunkeln», Elena Ferrante, übersetzt aus dem Italienischen von Anja Nattefort, Suhrkamp Verlag Berlin, 2019, 188 Seiten, 31.90 CHF

Die Originalausgabe erschien 2006 bei Edizioni Rom unter dem Titel «La figlia oscura»

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