Basel Kriminalgeschichten

Ritzen statt Schwitzen – Ausflug in die Jugenspychiatrie

Der autofiktionale Kriminalroman «Vollopfer» des Jugendpsychiaters Frank Köhnlein beschreibt den dramatischen Arbeitsalltag des Dr. Hepp, der versucht im Jugendheim dubiose Vorfälle aufzudecken. Dabei erfährt der Leser so einiges über die Herausforderungen in der Jugendpsychiatrie, wie beispielsweise die hohe Kunst des Fragens und Zuhörens. Das Buch bietet eine gleichermassen lehrreiche wie auch humorvolle Lektüre und ist eine wahre Ode an die Unzulänglichkeiten der jugendlichen Kommunikation.

Es beginnt alles in der Sauna des Waldsonnenheims, wo die Putzfrau den Heimleiter Wieland schwer verletzt und bewusstlos auffindet. Die Polizei leitet eine Untersuchung ein. Kommissar Poltrone und seine Assistentin, «die Blonde», wollen den Fall möglichst schnell aufklären, stossen bei der Einvernahme der Jugendlichen aber «auf Granit». Nun soll Dr. Hepp die Jugendlichen zum Reden bringen – keine einfache Sache, auch für einen Psychiater nicht. Noch dazu, wenn der Hepp sich grosse Sorgen machen muss: Ist es ein Zufall, dass die Jasmin mit rot geschlitzten Armen «wie ein blutiger Schnittmusterbogen» kurz vor Feierabend seine Hilfe braucht? Warum haut sie mit dem Autisten Noel ab, und was bedeuten dessen verschlüsselten Einträge im zurück gelassenen Notizbuch? Oder Jasmins Gedichtzeilen «Ritzen statt Schwitzen», die sie ihm unter den Scheibenwischer geklemmt hat? Fragen über Fragen, die pausenlos Hepps Kopfkarussell antreiben und die Warnblinker klicken lassen, sodass er sich fühlt, als wäre er im Kreisverkehr, selbst dann noch, wenn er gar nicht in seinem rostigen Fiat sitzt.

 Hochdosierter Erzählrausch

Köhnlein beschreibt den Psychiater Hepp als einen Facharzt für Antihelden, der «diese verhockten, maulfaulen, vorwurfsvollen, trotzigen Jugendlichen» mag. In einem lakonisch-zynischen Ton und einer markigen Sprache erzählt er deren Schicksale. Dabei setzt er sich auch mal über Grammatikregeln hinweg und lässt ab und zu Verben aus Nebensätzen verschwinden. Köhnlein berichtet im Buch über Autisten, Mutisten, Depressive, Selbstverletzer oder Zwanghafte – alles Figuren, die auf Fällen aus seiner langjährigen psychiatrischen Praxis basieren. Parallel dazu holt sich der Hepp regelmässig den Rat seiner Ehefrau und flüchtet sich abends in die offenen Arme der Rechtsmedizinerin. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des Alter Egos von Hepp, der laut und in der Umgangssprache denkt: er analysiert, doziert über Fachbegriffe der Psychiatrie wie Introjekt, interpretiert und kommentiert das Geschehen ununterbrochen. Inspiriert zu diesem kruden Erzählstil wurde Köhnlein durch die Brenner-Romane von Wolf Haas. Diese Lektüre habe ihn ermächtig, flüssig zu schreiben, erklärt er. Alles in allem besteht «Vollopfer» aus 190 hochdosierten Seiten, die sich locker in einem Zuge verschlingen lassen – nicht verwunderlich also, dass Köhnlein mit diesem Krimi einen Bestseller landete.

 Zweideutigkeiten und Anspielungen

Im Buch wird mit vielen Begriffen gespielt. Es gibt die Metapher des Kreisverkehrs, stellvertretend dafür, dass der Hepp nicht mehr weiter weiss und im Auto viele Runden drehen muss, um seine Gedanken zu ordnen und nach Lösungswegen zu suchen. Eine wichtige Rolle spielt auch die Dualität von Opfer und Täter: Wer Täter ist, war früher vielleicht auch mal Opfer und umgekehrt: «Jeder ist mal das Vollopfer, dies weiss der Hepp.» Dabei stellt sich auch gleich die Schuldfrage des Psychiaters, wenn sich jemand suizidiert oder geritzt hat. Hepp weiss: «Was du machst, es ist falsch. Es ist immer zu wenig, zu viel, zu spät oder zu früh, zu gross oder zu klein. Jedenfalls bist du nachher der Schuldige. Und vorher auch schon.» Wunderbar zum Vorschein kommt in der Erzählung auch der Antagonismus zwischen dem Kriminalbeamten und dem Jugendpsychiater. Beide sind eigenwillige Idealisten, ein klein wenig Weltverbesserer und befragen, hinterfragen und recherchieren in ihrer eigenen Manier und machen sich dabei gegenseitig das Leben schwer.

Wer Dr. Hepp zu weiteren Therapiestunden begleiten möchte, kann den 2. Hepp-Roman «Kreisverkehr» lesen. Dort wird noch intensiver über die Jugendpsychiatrie philosophiert und Hepp geht der Frage nach, warum sich eine jugendliche Patientin auf seinen Schoss gesetzt hat. Auch der 3. Hepp-Roman ist bereits geschrieben, wartet aber noch auf einen Verleger. Es bleibt also spannend im Waldsonnenheim.

Vollopfer – Ein Hepp-Roman von Frank Köhnlein, 2013, Wörterseh Verlag, 190 Seiten,  ISBN 978-3-03763-038-9, EAN: 9783037630389

Kreisverkehr – Das 2. Hepp-Buch von Frank Köhnlein, 2015, Wörterseh Verlag, 203 Seiten, ISBN 978-3-03763-047-1, EAN 9783037630471

 

Frank Köhnlein an der Aussenfassade des Gesundheitszentrum Psychiatrie an der Kornhaussgasse 7 in Basel

Frank Köhnlein ist gebürtiger Deutscher und arbeitet seit 2002 als Oberarzt an der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Universitätsklinik in Basel. Er ist Experte für psychische Störungen im Jugendalter. Er arbeitete selber sieben Jahre lang in einem Schulheim für verhaltensauffällige und psychisch kranke Kinder und Jugendliche. Video-Interview

 

 

 

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