Schweiz Unterwegs

Godot kommt nicht

Schon lange habe ich nicht mehr eine so witzige und sprachgewaltige Erzählung gelesen. Arno Camenisch nimmt in «Der letzte Schnee» die Leser mit an einen Skilift, wo die Zeit still zu stehen scheint, und die Tage sich dehnen «wie Autobahnen». Dabei geht es einerseits ums Warten auf den Schnee, andererseits um den guten alten «Schlepper».

Der letzte Märzschnee zerrinnt wie «die Mädchenherzen bei Elvis». Es riecht nach Gras, Lehm und Kuhmist. Die Kinder schlittern auf den allerletzten Millimetern weissem Nass auf ihren Bobs den Hang hinunter. Rechterhand steht verlassen der Schlepplift «Untere Wanne». Es hat zwar in Langenbruck geschneit, aber der Schnee reicht nicht aus, um die Pisten zu präparieren. Und so hängen die roten Bügel an diesem Sonntagmorgen still in der Sonne unter einem blauen Himmelsdach.

Diese Szene bietet das ideale Fotosujet für meine Buchrezension über Arno Camenisch’ Erzählung «Der letzte Schnee». Denn die Stimmung ist ähnlich wie im Bündner Unterland, wo die beiden Skiliftwarte Georg und Paul auf den Schnee warten und sich auf die Skifahrer vorbereiten und dabei viel Zeit haben zum palavern und sinnieren. Sie reihen die blauen, grünen und rosaroten Billette auf, zählen Liftbügel, überprüfen das Funkgerät oder üben «den Ernstfall, wie es nämli im Reglement steht». Ihre Aktivitäten schreiben sie akribisch in ihr «Schurnal», ohne den Sinn und Zweck ihrer Arbeit zu hinterfragen. Regelmässig schauen sie auch ins Dorf hinunter und lassen die letzten Jahrzehnte Revue passieren. Und so schmelzen die Wintertage dahin, und jeden Tag stellen sie pünktlich um Viertel vor vier den Schlepplift ab.

Ein schönes Ding dieser Klepper

Dabei warten sie in einer von Camenisch neuinterpretierten ratlosen Godot-Manier: «Wie auf dem Dach der Welt ist das, wenn man hier steht und übers Nebelmeer schaut, sagt der Paul, man meinte fast, man könne über dieses Wolkenmeer laufen wie Jesus übers Wasser. Nur dürfte es noch etwas schneien, Coffertami, aber der Himmel will nicht, eine Provocaziun ist das.» Der Georg in seiner alten Skijacke richtet sein Käppi, kratzt sich am Hinterkopf und zündet sich eine Zigarette an; der Paul in seiner blauen Skilehrerjacke hält seine flache Hand vor die Stirn und lacht. Beide stehen am Skilift mit den Händen in den Hosentaschen und schauen den Skilift an, dieses schöne Ding, diesen Klepper, Baujahr 1971, der ihnen viel Freude bereitet. Kommt endlich der ersehnte Schnee, ist es bestimmt Montag, und die Leute müssen zur Arbeit, und am Montag, „diesem Krüppeli, sind alle futsch und haben Launen wie alte Hühner“. Kapitel um Kapitel wiederholen sich diese Skiliftszenen im Takt der Einseilumlaufbahn. «Der letzte Schnee» eignete sich denn auch bestens als Bühnenstück, denn es bräuchte nur ein einziges Bühnenbild mit ein paar Requisiten wie einen Feldstecher, ein Radio mit einer abgebrochenen Antenne, eine Armbanduhr und einen roten Eimer.

Schnee seltener als Kokain

Raffiniert gewählt ist in Camenischs Erzählung die Perspektive. Georg und Paul stehen etwas entrückt beim Lifthüttli und dabei drehen sich ihre Gespräche um den Skilift und das Wetter. Während Georg meistens schweigt, fabuliert Paul über die Dorfbewohner, oder seine Ehefrau Claire und den Sohn, der nur „Quecksilber“ im Gehirn hat. Haupthema ist jedoch der Schnee, der nicht kommt, denn «dem Allmächtigen ist die Courasch abhandengekommen», und «der Schnee ist afängs seltener geworden als Kokain.» Die witzigen Sprachbilder und die kräftigen Bündner Dialektwörter beleben den gradlinigen Erzählstrang und lassen den Lesefluss rattern und zurren wie das Zugseil des Skilifts. Interessanterweise berichtet Camenisch kaum über die Skifahrer. Man erfährt auch nicht so genau, wie viele Besucher überhaupt kommen: Georg und Paul suchen erfolglos nach dem verschwundenen Zähler, und finden es dann etwas «domasch», dass sie nicht mit Sicherheit wissen, wieviel Gäste sie heute gehabt haben. Und so schätzen sie halt wie «der Stimmenzähler Cristof im Kantonsparlament». Es gibt viele solche offene Stellen in Camenisch Erzählung, die dem Leser viel Platz für eigene Gedanken lassen und die Fantasie ankurbeln. Und so schwelgen nicht nur Georg und Paul in ihren Erinnerungen, sondern nach den ersten paar Seiten auch ich. Denn wie wohl die meisten Schweizerinnen und Schweizer verbinden auch mich viele unvergessliche Erlebnisse mit dem guten alten Schlepplift – Arno Camenisch Erzählung bildet denn auch ein gemütliches Antidot zur Effizienz der hochmodernen Skigebiete mit ihren Schneekanonen und den 8er-Sesselbahnen, die mit Plastikhauben und Sitzheizungen ausgestattet sind.

«Der letzte Schnee» ist daher auch eine Art geballte Liebeserklärung an die letzten Schlepplifte im Unterland und deren braungebrannten Liftwarte, die gut gelaunt, meist mit einer Krummen im Mundwinkel und einer Hand in der Hosentasche, jahrzehntelang den Skifahrern die Bügel unter die Füdli klemmten.

Der letzte Schnee von Arno Camenisch, Januar 2018, Engeler-Verlag, 99 Seiten, Preis 27.90 Franken, ISBN978-3-906050-35-5

Der Skilift „Untere Wanne“ aus den 60er Jahren ist einer der ältesten Schlepplifte in der Schweiz.

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