Der Nahe Osten. Fast täglich geistert der Begriff durch die Medien. Oft sind die damit verbundenen Konnotationen negativ: Krieg, Terror, Willkür, Elend, Verzweiflung… Aber das war nicht immer so. Lange, bevor Begriffe wie Naher Osten oder Mittlerer Osten sich durchgesetzt haben, war ein anderer Name für die Region gebräuchlicher: Der Orient. Und interessanterweise verschieben sich mit dem Wechsel des Begriffs für diese Region auch die Vorstellungen davon. Der Orient. In dem Wort schwingt eine Erinnerung an 1001 Nacht mit, an sagenhafte Schätze, majestätische Städte, bildschöne Prinzessinnen, reich beladene Karawanen. Dieses Wort klingt nicht nach Terror, nicht nach Elend, nicht nach Verzweiflung. „Der Orient“ klingt nach Geheimnis. Und nach Abenteuer.
Vielleicht war es das, was 1921 einen jungen Schriftsteller auf seiner Reise von Istanbul über Batum, Tiflis, Teheran und Bagdad nach Damaskus antrieb: Die Suche nach dem alten Orient, der gleichsam vor seinen Augen, just im Moment des Vorbeireisens, verloren ging.
Denn als John Dos Passos 1921 durch den Orient reiste, befand sich dieser bereits in Auflösung. Obwohl der 1. Weltkrieg offiziell 1918 geendet hatte, war er hier vielerorts noch nicht vorbei: Das Osmanische Reich lag in Trümmern. Türken und Griechen befanden sich im Krieg miteinander. Istanbul war von alliierten Truppen besetzt. Das erst seit kurzem bolschewistische Russland hatte seine Einflusssphäre ausgedehnt und Georgien, Armenien und Aserbeidschan erobert. Die westlichen Siegermächte teilten die arabischen Überreste des Osmanischen Reichs unter sich auf, zogen neue Grenzen und machten regionale Verbündete aus dem Krieg zu Herrschern neuer Staaten. Die ganze Region war in Aufruhr: Besatzungstruppen, heimkehrende Truppen, Aufständische, Kriegsgefangene, Hungernde, Bettler, Kriegskrüppel, Verwüstung, Elend, brennende Städte, Entwurzlung. Das Verlorengehen alter Werte, das Festhalten am Alten; das Ringen ums Neue.
Durch diese in sich zusammenfallende Welt reiste der Amerikaner John Dos Passos im Alter von 25 Jahren. Per Dampfschiff, mit der Eisenbahn, zu Fuss, in damals noch wenig zuverlässigen Automobilen und von Bagdad bis nach Damaskus auf dem Rücken eines Kamels. Das dabei entstandene Buch mit dem Titel „Orient-Express“ ist ein mitreissender und grandioser Reisebericht, der in vielerlei Hinsicht wegweisend war – und immer noch ist. Nicht nur, weil das Werk einen entscheidenden Moment in der Entwicklung des Nahen Ostens festhielt und damit stellenweise immer noch brandaktuell klingt, sondern auch wegen der literarischen Qualitäten des Buchs.
Der junge Dos Passos schildert seine Reise atemlos, in knappen Sätzen, klaren Bildern und mit einer sehr eigenen Wortwahl. Allein sein Vokabular für Farben sucht seinesgleichen: Da sind Berge in der Halbwüste schon mal löwenfarben, uralte Bettler sind „gelb wie zerschlissener Damast“, ein Himmel kurz nach Sonnenuntergang hat die Farbe einer Taubenbrust. Die getriebene Atemlosigkeit des Schreibers und die eigenwillige, treffende Wortwahl lassen beim Lesen eine sehr unmittelbare Stimmung entstehen. Man liest Seite um Seite mit dem Gefühl, ganz nah dran zu sein, mitzureisen, Staub zu schlucken, Fremde zu atmen.
Obwohl Dos Passos das durch die grossen Umwälzungen verursachte Leid und Elend sieht und auch detailliert beschreibt, hat sein Bericht nichts Wertendes und nur selten etwas Schwermütiges. Vielmehr protokolliert er das Gesehene mit klarer Nüchternheit. Und einem wachen Blick für all die kleinen Marotten und Eigenheiten, die die Menschen ausmachen, denen er unterwegs begegnet. Dieser Blick verleiht seinen Schilderungen immer wieder einen heiteren, bisweilen auch ironischen Unterton. Denn, auch das drückt beim Lesen durch, Dos Passos kann sich mit seinen fünfundzwanzig Jahren nicht dem triumphierenden Gefühl entziehen, ein grosses Abenteuer zu erleben. Ein ambivalenter Gedanke, angesichts des Zerfalls und der Gräuel um ihn herum, wie ihm wohl selbst bewusst ist: „Was will ich überhaupt im Orient? Was gehen mich diese welken Fragmente alter Ordnungen an, diese toten Religionen, diese Ruinen, gespickt mit den Larven der Geschichte?“, fragt er an einer Stelle. Nur um dann einige Seiten weiter zu antworten: „… diese Begeisterung für das Reisen … ist höchstwahrscheinlich nur eine tückische und raffinierte Droge…. Wie bei allen Drogen, muss die Dosis ständig gesteigert werden.“
Trotzdem: Dos Passos reist keineswegs in selbstbezogener Gleichgültigkeit dem eigenen Kick hinterher. Er hinterfragt die Umstürze, deren Zeuge er wird. Und fragt sich, was an Stelle der alten Ordnungen treten wird.
In dieser Hinsicht ist seine Prognose dann doch schwermütig: „Der Westen ist auf dem Vormarsch…. Kein Gott ist stark genug, der Universal Suburb zu widerstehen.“. Vielleicht ist es diese Gewissheit, diese Angst vor der weltumspannenden, sauber aufgeräumten Vorstadt, die ihn seine Reise mit einer verzweifelten Intensität geniessen und beschreiben lassen. Die Ahnung, etwas zu beschreiben, das im Verlorengehen begriffen ist, klingt im ganzen Buch immer wieder an. Vor allem während des letzten Teils der Reise, den er mit Nomaden als Teil einer grossen Karawane verbringt. „Ich bin noch nie so glücklich gewesen.“, schreibt er da fernab von jeglichem Komfort, umgeben von schiesswütigen Mitreisenden und bedroht von Banditen – dort, wo es noch weit und breit keine Suburbs gibt.
John Dos Passos gilt heute neben Ernest Hemingway und anderen als einer der grossen Vertreter der amerikanischen Moderne. Er hat eine Vielzahl von Werken veröffentlicht, unter anderem „Manhattan Transfer“ und die USA-Trilogie. Viele seiner Werke wurden von Kritikern gefeiert und waren auch kommerziell grosse Erfolge. In seiner ersten Lebenshälfte stand Dos Passos politisch klar links. Er sympathisierte mit der jungen Sowjetunion und lehnte den Kapitalismus, den er für viele Kriege verantwortlich machte, ab. Mit zunehmendem Alter verschob sich seine politische Haltung nach rechts. Dos Passos betätigte sich auch als Maler, allerdings nicht ganz so erfolgreich wie als Schriftsteller.
„Orient-Express“ erschien erst im Jahr 2013 auf Deutsch; das dafür in einer ausnehmend sorgfältigen und präzisen Übersetzung von Matthias Fienbork.
Englisch: John Dos Passos, Orient-Express, 1927, Harper & Brothers
Deutsch: John Dos Passos, Orient-Express, 2013, Nagel & Kimche, aus dem Englischen von Matthias Fienbork.