Reiseberichte

Herbst am Stadtrand und mein Hunger will nicht nach Bangkok

Weisse Sandstrände, gleissender Sonnenschein, ein warmer Wind vom Meer her, in dem sich die Palmen wiegen. Schön wärs. Mit Mühe und Not klaube ich mich von der Couch weg und schalte den Fernseher aus. Draussen vor dem Fenster hat sich ein unfreundlicher Tag breit gemacht – eigentlich wie gemacht, um den ganzen Tag auf der Couch liegen zu bleiben, Reisedokus zu gucken und sich wohlig im Fernweh zu wälzen. Aber es ist Sonntag und somit meine letzte Gelegenheit noch mit einigermassen gutem Gewissen die Radtour ans Ende der Stadt zu abslovieren – der Gesundheit zu liebe und so – die ich schon die ganze Woche über vor mir her schiebe . Und die Dokus rennen nicht davon. Die kann ich mir auch noch ansehen, wenn ich zurück bin. Also raus aus den Trainers, rein in die Jeans, raus aus der Wohnung. Im Treppenhaus riecht es nach Kohl und Waschtag. Ich trete ins Freie, umrunde das Haus, schliesse mein Rad los, schaue die Badenerstrasse runter. Was ich von der Stadt sehen kann, hängt wie ein graubrauner Betonklotz unter dem farblosen Himmel und zieht ihn zu sich runter. Eine leichte Bise weht den Geruch von welkem Laub vor sich her. Es ist kühl und ich bin froh um den Kapuzenpulli unter meiner Jacke.

Das Quartier hier ist Alltagskulisse und ich habe mich längst daran gewöhnt, durch die langgezogenen vier- und fünfstöckigen Mietskasernen entlang der Strasse hindurchzusehen. Ich muss mich bemühen, bewusst den Graustich ihrer braunen, grünen, hellblauen Fassaden zu sehen, oder die Stellen, wo die Farbe abgeplatzt ist und oder die Glasfronten der Autohändler oder die glänzenden Offroader und Kleinwagen dahinter. Es ist wirklich saukalt. Vielleicht hätte ich doch lieber die Dokus… Aber ich schwinge mich aufs Rad und fahre.

Auf dem Radstreifen und den Gehsteigen häuft sich das Laub, hie und da liegen Kastanien unter den Bäumen. Was den Buchen, Birken, Kastanien und Ahornbäumen zwischen den Häusern noch an Blattwerk geblieben ist, hat Kürbisfarben angenommen: Leuchtendes Gelb und mattes Orange. Das 2er Tram rumpelt vorbei und lässt zwei Krähen auffliegen. Sie lassen sich laut krächzend auf dem Giebel eines Mehrfamilienhauses weiter vorn nieder. Ansonsten ist es, von den gelegentlich vorbeirauschenden Autos mal abgesehen, ruhig: Später Sonntagnachmittag an der Grenze zur Vorstadt. Irgendwoher riecht es nach frisch Gekochtem. Ich kriege Hunger.

Schwer vorstellbar, dass hier mal jemand eine Reisedoku drehen wird. Eine Reisedoku über Zürich, überlege ich mir, würde Kamerafahrten durch die Gassen der Altstadt beinhalten, Panorama-Aufnahmen vom See, vielleicht ein paar schnell geschnittene Clips über das Nachtleben an der Langstrasse und rund um den Prime-Tower rum. Vielleicht wäre in der Doku noch ein Reisereporter zu sehen, der auf der anderen Seite der Stadt, am Bonzenhügel drüben, zwischen elegant-zurückhaltenden Villen und weitläufigen Gärten umherschlendern und Allgemeinplätze über die unvergleichliche Lebensqualität in der Bankenstadt von sich geben würde. Hierher würde er sich nicht verirren. Hier gibt es keinen Primetower, keine schicken Bars, keine Bonzen, keine gepflegten Liegenschaften mit Seeblick. Hier gibt es plumpe, bullige Mehrfamilienhäuser, Take-Aways, versprühte Pressspanwände, Brachflächen voll Bauschutt, mindestens alle hundert Meter einen Gebrauchtwagenhändler; hie und da eine Tankstelle, in deren 24-Stunden-Shop Anwohner in Jogginghosen ihre Sonntagseinkäufe erledigen.

Ein blaues Schild am Strassenrand zeigt an, dass ich mich schon fast in Schlieren befinde, das genau genommen nicht mehr zur Stadt gehört. Damit hätte ich mein eigentliches Ziel erreicht, aber so langsam kommt mir wieder in den Sinn, warum ich mich auf dieser Seite der Stadt so wohl fühle. Herrlich unkompliziert ist es hier; herrlich unaufgeräumt auch. Ein bisschen so, wie ich die Destinationen in meinen Reisedokus am liebsten mag: Einfach und ungeschliffen.

Ich entschliesse mich, noch einen Schwenk durch Schlieren zu drehen. Kurve durch Quartierstrassen und um rauchende alte Männer mit Baskenmützen und Lederjacken herum, an misstrauisch guckenden Omas vorbei, die in zugigen Wartehäuschen vor sich hinbrüten und auf den Bus oder wer-weiss-was-sonst warten, passiere ein Rudel Jungs, das sich auf einem Parkplatz um einen getunten silberfarbenen VW Golf versammelt hat und diesen fachmännisch taxiert. Kurz sehe ich in einen Hinterhof hinein, in dem sich wild entsorgter Abfall stapelt, gegenüber ragt ein fünfzehnstöckiger Wohnblock aus Beton in die Höhe – kahl, karg, irgendwie melancholisch im Grau des späten Nachmittages.
Der Geruch von heissen Kastanien lockt mich zum Bahnhof. Ein Dreierstrang Gleise, ein paar rumhängende Jugendliche, eine fast leere Bahnhofswirtschaft, in deren trübem Licht Währschaftes serviert wird. Eine Szene, wie man sie in fast jeder mittelgrossen Gemeinde der Schweiz an fast jedem beliebigen Sonntagnachmittag wiederfindet. Mit dem zumindest halbwegs grossstädtischen Stadtkern von Zürich hat das nun endgültig nichts mehr zu tun.

Ich überquere die Gleise und fahre auf der anderen Seite an Arbeiterhäusern aus Backstein und Schrebergärten vorbei zurück Richtung Altstetten. Währenddessen überlege ich mir, dass ich ja eigentlich Hunger habe. Also stoppe ich noch kurz am Bahnhof Altstetten, mache mein Velo fest und betrete das Café neben dem Kiosk; nebst dem Verlangen nach Kafi und Nussgipfel auch geleitet von der vagen Hoffnung, dort interessante Menschen zu finden. Auf den ersten Blick werde ich enttäuscht: Keine vor dem tausendsten Weinglas in sich zusammenfallenden Stammgastalkoholiker über die man Boshaftes oder Tragisches schreiben könnte. Auch sonst wenig los in dem Lokal. Ich bestelle trotzdem und mustere den einzigen anderen Gast: Ein junger, auf Durchschnitt getrimmter Typ, der wie ich Kaffee trinkt und in erstaunlich zackigem Berndeutsch irgendwas Geschäftliches in sein Handy hitlert (sein Stakkato gemahnt tatsächlich an eine Berner Ausgabe des bösen alten Adolf: „Du-muesch-hüt-no-zrüggschrybe-Auäää!“). Ich wende mich ab. Berner sind auch nicht mehr, was sie mal waren. Zu viel zack-zack für meinen Geschmack. Und das an einem Sonntag.

Die Bedienung bringt meinen Kaffee. Sie ist gross, schlank und war wahrscheinlich mal ziemlich hübsch. Jetzt hat sich ein harter Zug um ihren Mund eingegraben; sie hat Schatten unter den Augen, ihr Haar ist matt und brüchig. Sie sieht ganz allgemein so aus, als würde sie seit langem zu viele Sonntagsschichten hintereinander übernehmen.

Die Kaffeemaschine hinter dem Tresen brummt laut vor sich hin, auch wenn sie nicht in Betrieb ist, so als befände sie sich im dauernden Wettstreit mit den Boxen an der Decke, aus denen eine italienische Ballade in das Lokal hineinplätschert. Draussen vor der Glasfront halten von Zeit zu Zeit blauweisse Busse an und spucken Passanten aus, in einer Ecke des Bahnhofplatzes hocken ein paar Jugendliche auf ihren Mofas rum, ein Rekrut in Ausgangsuniform verabschiedet sich von seiner Freundin, bevor er staksigen Ganges in Richtung Unterführung verschwindet, während sie ihm nachschaut und dann ihr Handy zückt.

Ich stehe auf und zahle am Tresen. Die Bedienung wirft mir ein Lächeln zu, das sie um Jahre jünger und schöner werden lässt. Bewundernswert: Als wäre ich nicht einer von Hunderten, die heute fünf Minuten hier gesessen haben. Ich lächle zurück, gehe raus, schlendere zum Velo rüber. Altstetten ist multinational, wie mir wieder mal auffällt. Auf dem kurzen Weg zum Fahrrad höre ich Italienisch, Portugiesisch, Serbisch und – vermutlich – Eritreisch.

Ich schwinge mich wieder aufs Rad. Weit ist es nicht mehr bis nachhause. Was gut ist, denn allmählich dämmert es. Die Beleuchtungen der Reklametafeln werden eingeschaltet. „Dein Hunger hat Lust auf Bangkok!“, kräht mir unvermittelt eins der Leuchtplakate ins Gesicht. …däfagg?? Ich mag es ganz allgemein nicht, wenn Werbungen meinen Hunger bevormunden – der ist alt genug, sich direkt an mich zu wenden –  und in diesem Fall speziell nicht, weil mir Thaifood jetzt grad viel zu exotisch wäre. Etwas Bodenständiges muss her. Irgendwas, was nach Altstetten oder Schlieren schmeckt. Bratwurst oder so. Während ich das Rad hinterm Haus abschliesse und die Treppe zur Wohnung hoch in Angriff nehme, gehe ich schon mal das Inventar meines Gefrierfachs durch. Den Rest des Abends verbringe ich mit Kohl, Fischstäbchen (MSC-zertifiziert, selbstverständlich) und einem Schreibblock am Küchentisch. Reisedokus gucken kann ich auch morgen noch. Heute schreib ich erst mal meinen eigenen Film.

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