Reiseabenteuer

Absturz des Himmels

Im Juli vor 150 Jahren stand der Engländer Edward Whymper als erster Mensch auf dem Matterhorn. Weiter unten, von der italienischen Seite her, konnte sein Rivale, der einheimische Bergführer Jean-Antoine Carrel, nur zusehen und enttäuscht wieder umkehren. Beim Abstieg jedoch kam es in Whympers Seilschaft zu einer Tragödie, die bis heute für Spekulationen sorgt.

Längst ist der 4478 Meter hohe Berg mit der „Idealform“ ein Label geworden und das Bauerndorf Zermatt ein Touristenzentrum. Reinhold Messner, einer der bekanntesten Bergsteiger unserer Zeit, legt zum Jubiläum einen Tatsachenroman vor, der eindrücklich die Anfänge dieser Entwicklung aufzeigt und auch die Frage nach der Verantwortung am Berg stellt.

„Das Jahr 1865 ist ein Schlüsseljahr im modernen Alpinismus, der 1786 mit der ersten Besteigung des Mont Blanc begann und bis heute fortdauert.“, schreibt Messner in seinem Nachwort von Absturz des Himmels. Bis zu der Zeit hatten die Bergler dieser Region den dreikantigen Obelisken gemieden und zahlreiche Mythen um ihn gesponnen. „Dort, wo die Weiden Gras und die Wälder Holz liefern, wo Wasser die Mühlräder antreibt, leben die Bergbauern als Halbnomaden. Bis dorthin, wo Gämsen stehen, steigen auch Jäger und Wilddiebe. Noch höher ist nichts. Der ewige Schnee bildet die Grenze. Von dort bis zum Himmel reicht weder ihre Gier noch ihre Neugier.“ Die Bergler verstanden zu Beginn die reichen englischen Touristen nicht, die auf ihren gewohnten Luxus und ihre Kutsche verzichteten, den mühsamen Fussweg auf sich nahmen und in Heuhütten übernachteten, um auf vereiste Gipfel zu steigen. Bis auf Jean-Antoine Carrel aus dem Valtournenche auf der italienischen Seite des Matterhorns. Dieser erkannte seine eigene Neugierde in den Besuchern wieder. Mit den Touristen, die auf Erstbesteigungen aus waren, kam auch die Nachfrage nach kundigen Bergführern wie Carrel auf. Messner beschreibt Carrel als einen Aussenseiter, der das Gelände um das Matterhorn wie kein anderer kennt, aber seine Auftraggeber auch kritisch sieht: „Das Problem dieser „Herren“ ist die Angst vor der Angst, erkennt Carrel. Nur weil sie unsicher sind, suchen sie die Hilfe des Bergführers. Der soll nicht nur den Rucksack, sondern auch die Verantwortung tragen.“

In Absturz des Himmels zeichnet der heute 70-jährige Reinhold Messner zwei unterschiedliche Charaktere, die in Zusammenarbeit die perfekte Seilschaft hätten bilden können, aber bittere Rivalen wurden. Edward Whymper, aus einer englischen Künstlerfamilie, hat in seiner Jugend rein gar nichts mit Bergen zu tun und ist mit 25 Jahren einer dieser „Herren“ auf der Suche nach einem Bergführer. Er schafft es auch den widerwilligen Carrel für mehrere Aufstiegsversuche für sich zu gewinnen, doch wird am Gipfel jedes Mal von ihm zurückgehalten. Denn Jean-Antoine Carrel hingegen ist die Verantwortung für seine Seilschaft wichtiger als Gipfelsiege. Am Schicksalstag, dem 14. Juli 1865, erreicht Whymper von Zermatt aus das Matterhorn als Erster – ohne Carrel. Beim Abstieg jedoch stürzt einer der vier englischen Bergsteiger und reisst die Seilschaft mit sich. Whymper, sein Bergführer Taugwalder und dessen Sohn haben Glück, denn das Seil reisst, so dass sie überleben. Über diesen Seilriss – die Überreste sind in Zermatt im Matterhorn Museum ausgestellt – ranken sich viele Theorien. Hat Whymper das Seil nach dem Sturz durchtrennt, um zu überleben? Hat Bergführer Taugwalder absichtlich ein dünnes Seil gewählt, weil er über die Unerfahrenheit von Whympers Begleitern Bescheid wusste? Messner lässt in Absturz des Himmels all das Revue passieren, zitiert aus Dokumenten, spekuliert und kommentiert aufgrund seiner Erfahrungen als Extrembergsteiger.

Auf dem Bergsteigerfriedhof in Zermatt liegen die Gebeine der Verunglückten begraben; nach dieser Tragödie begann der Tourismus in Zermatt zu boomen. 150 Jahre nach der Erstbesteigung ist das einstige Bauerndorf Zermatt zu einer Touristenhochburg geworden mit 2 Millionen Übernachtungen pro Jahr. Der Aufstieg zum Gipfel ist heute am Lion-  sowie am Hörnli-Grat mit Fixseilen und Leiten eingerichtet. „So ist das „Horu“, die „Gran Becca“, auch jenen zugänglich, die dem Berg in Eigenverantwortung nicht gewachsen sind.“, schreibt Messner. Das Matterhorn sei, wie auch der Mount Everest zu einem „Konsumberg“ geworden.

Der wortkarge Carrel, der Tage vor der Erstbesteigung den Weg für seine italienischen Kunden am Gipfel vorbereitet hatte, damit er deren Aufstieg verantworten konnte, ist für Messner aber der eigentliche Held in Absturz des Himmels. „Wie ehrenvoll es auch immer gewesen wäre weiterzumachen, um die Spitze wenige Stunden nach seinem Rivalen zu erreichen – Carrel riskierte nie zu viel. Als steckten Sorge und Verantwortungsgefühl für seine Leute in seinen Genen. Was er erträumt hatte, war die erste Besteigung seines Berges und sonst nichts. Und dafür war es jetzt zu spät. Ehre, wem Ehre gebührt.“

Carrel hielt am Prinzip der Verantwortung sein Leben lang fest, bis er auf einer Bergtour – 25 Jahre nach der Erstbesteigung des Matterhorns – starb. Nach einem eiligen Abstieg wegen eines plötzlich aufkommenden und heftigen Sturms, brach Carrel vor Erschöpfung zusammen, nachdem er seine Schutzbefohlenen aus der Gefahrenzone in Sicherheit gebracht hatte. Der Bergsteiger Messner erinnert hier eindringlich daran, dass ein Gipfelsieg erst mit dem erfolgreichen Abstieg endet.

Absturz des Himmels beleuchtet die Erstbesteigung des Matterhorns nach 150 Jahren und macht mit dieser Geschichte auch das Dilemma des modernen Alpinismus fassbar. Während damals Nationalstolz Menschen auf die Gipfel trieb ist der Sport heute geprägt von Konsum und Kommerz. Messner, für den das alpine Abenteuer stets im Zentrum steht, kritisiert in seinem Buch beides. Das macht Absturz des Himmels nicht nur für Bergsteiger interessant, sondern auch für jene Leser, die sich für die Kontroverse des Bergtourismus interessieren.

Reinhold Messner: Absturz des Himmels. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2015. 282 Seiten. ISBN 978-3-10-002424-4

Nächste Woche reisen wir mit Dominique Götz von Basel aus in die Philippinen…

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert