Biografien

Script Avenue – Eine Umarmung für Claude Cueni

Teil 1 der Trilogie: Liebeserklärungen an Basler Autoren

 

Wie geht es wohl jetzt Claude Cueni? Das war mein erster Gedanke, als ich den Buchdeckel der „Script Avenue“ schloss. Seine Geschichte endet auf der hämatologischen Abteilung der Universitätsklinik, wo der Leukämiekranke ein paar Monate lang um sein Leben kämpft. Sein Sohn steckte ihm Kopfhörer in die Ohren mit den Songs der Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahre, um ihn zum Schreiben zu bringen. Diese musikalische Zeitreise weckt in Cueni Erinnerungen an die Vergangenheit. Und so tippt er  in Latexhandschuhen mit wunden Fingerbeeren und abgefallenen Fingernägeln seine Lebensgeschichte in den Computer und schreibt über sich, Gott und die Welt.

 „Die Angst wurde mein Zuhause“

Als Kleinkind verbringt Cueni seine ersten Lebensjahre in einer Schraubenkiste im Schafstall eines jurassischen Bauerndorfes und erlernt das Blöken der Schafe. Es ist ein  katholisches Dorf voller schmutziger Kühe und grober Verwandter, wo Lieblosigkeit und Inzest, aber auch Armut den Alltag prägen. Claude Cueni ist gerade vier Jahre alt, als ihn seine Eltern wieder zu sich nehmen und nach Basel bringen. Sein Vater, „der hagere Blonde im hellblauen Hemd“, schlägt und ohrfeigt ihn. Seine Mutter erpresst ihn mit Sterbedrohungen und ihrem katholischen Wahn. Und so hält Cueni Gott bald einmal für einen Trottel. Um seinen schwierigen Lebensumständen zu entfliehen, flüchtet er sich in seine Script Avenue, eine Fantasiewelt, deren Geschichten er parallel zu seiner Biografie im Roman aufschreibt. Dort kann er sein schwieriges Leben verarbeiten, indem er seine Aggressionen und seine Liebesbedürftigkeit auslebt. Zuerst ist es dunkel in der Script Avenue, aber mit den Jahren wird es in Cuenis Parallelwelt immer heller: „In der Script Avenue erschiesse ich den Blonden immer wieder. Dort gibt es nicht nur Römer, sondern pädophile Priester, die es hinter dem Saloon treiben….vielleicht trägt jeder Mensch so eine verborgene Script Avenue in sich. Für mich war es die einzige Möglichkeit, die verhasste Realität zu verlassen…..Ich lernte fliegen und Monster zu töten. Ich erschuf eine ganze Westernstadt und knipste die Sonne an. Immer mehr Menschen zogen ein und wurden meine Freunde. Reale Menschen, fiktive Menschen, Menschen aus vergangenen Epochen, Menschen aus der Zukunft…Die Script Avenue wurde zu meinem Zuhause.“

Wenn Claude Cueni sehr traurig ist, blökt er.

„Das Leben kennt keine Gerechtigkeit, keine Logik.“

Cueni beginnt als Teenager am Tourette-Syndrom zu leiden, einer Zwangsneurose, „dem Rohstoff für Vielschreiber“. Er ist fortan ein Getriebener. Er bricht die Schule ab und wird in ein katholisches Internat verbannt. Dort haut er ab und schlägt sich mit den ungewöhnlichsten Jobs alleine durchs Leben. Als Assistent beim Strafgericht und als Archivar einer Versicherungsgesellschaft findet er genug Stoff für seine Geschichten. Seit er in der Schule den Robinson Crusoe gelesen hat, will er Schriftsteller werden und das ohne Plan B. Er hämmerte während seiner Teenager-Jahre Geschichten in eine Hermes Baby, die er von seinem pädophilen Onkel Albert, einem ehemaligen Fremdenlegionär und Kriegsverbrecher, geschenkt bekommen hatte. Obwohl seine Mutter ihre abendlichen Rosenkranzgebete verdoppelte und ihn literweise mit Weihwasser bespritzte oder Fonduegabeln unter seinem Bett kreuzte, um ihm den Teufel auszutreiben, verwirklicht Cueni seinen Lebenstraum. Er schreibt wie ein Wahnsinniger tausende von Seiten bis zur totalen Erschöpfung. Bis ihn seine grosse Liebe und zukünftige Ehefrau rettet. Fortan verdient Cueni mit Bedienungsanleitungen, Werbetexten und Drehbüchern Geld und führt ein paar Jahre lang ein unbeschwertes Leben. Herzergreifend sind die Kapitel, wo Cueni über seine grosse Liebe zu seiner Frau und seinem Sohn erzählt. Beeindruckend sind insbesondere die schwierigen Jahre, die die Eltern Cueni mit der Therapie und Einschulung ihres behinderten Sohnes erleben. Cueni wurde vom Schicksal hart angefasst. Seine Frau erkrankt an Krebs und stirbt. Nach ihrem Tod nimmt Cueni die Einladung eines Professors an, der an seiner Casino Software „Goldfinger“ interessiert ist. Skurrilerweise reist die Urne seiner Frau mit. In Asien will der Wittwer seine Trauer verarbeiten und mal wieder richtig das Leben geniessen und erlebt ein paar Kapital lang diverse sexuelle Höhenflüge mit Asiatinnen. Wobei Cueni ganz unkompliziert über Sex schreibt, so wie er auch übers Essen, Trinken und Schlafen schreibt – endlich mal ein Schriftsteller, der es auf den Punkt bringt. In Asien trifft Cueni auch seine zweite Ehefrau, die ihm fortan beistehen wird.

 „Es soll ein ehrliches Buch werden“

Die hohe Konzentration an Schicksalsschlägen in Cuenis Leben, lassen beim Leser schnell Zweifel aufkommen, ob dieser Roman wirklich eine reine Biografie sei. Darum ist der Schriftsteller immer um Wahrhaftigkeit besorgt. Er will, dass der Leser seine Geschichte glaubt und nimmt ihn gleich auf der ersten Seite an der Hand und spricht ihn direkt an. Er erzählt, wie er im Spital seine Lebensgeschichte aufschreibt und welche Bemerkungen sein Agent in sein Manuskript reingeschrieben und was er raus gestrichen hat. Und das ist einfach nur bravourös. Der Autor macht den Leser damit zu seinem Verbündeten und sichert sich dessen Liebe. Politisch unkorrekt, schrecklich traurig und traurig schön, aber auch ironisch und ohne mit dem Schicksal zu hadern, erzählt Cueni mehr oder weniger chronologisch sein Leben von 1956 bis 2012.

Der Blick zurück ist für Claude Cueni nicht nur schön.
Der Blick zurück ist für Claude Cueni nicht nur schön.

Schon beim ersten Satz verfiel ich Claude Cueni und verstand sofort, dass dieses Buch ein grosser Schatz ist. Nach dem letzten Satz fühlte ich mich verlassen. Kann ich ohne Claude Cueni weiterleben? Ich wollte ihn anrufen, meine Liebe kundtun und ihn umarmen. Ich wollte schreien: Vielen tausend Dank Herr Cueni für dieses Wahnsinnswerk. Ich googelte stattdessen und fand seitenweise Lobeshymnen auf die „Script Avenue“. Claude Cueni wurde im Frühsommer 2014 von sämtlichen Medien gefeiert. Besonders berührend ist das Radiointerview auf SRF. Wer Cuenis Stimme hören möchte, klicke hier.

„Mein letztes Buch soll mein bestes werden“

Claude Cueni erklärte, dass er dem Leser eine spezielle Leseerfahrung bieten wollte. Darum machte er auch vor seiner Intimsphäre und den tiefsten Abgründen nicht halt und bewies damit unglaublichen Mut. Seine bärenstarke Sprache und sein Galgenhumor lassen auch die hässlichsten Geschehnisse zu einem Lesegenuss werden. Auf 638 Seiten hat mich Cueni mit seinem fulminanten Sprachfeuerwerk immer wieder aufs Neue überrascht. Darum finde ich, hätte Claude Cueni mit der „Script Avenue“ den Schweizer Buchpreis verdient. Er hat mit diesem Bestseller eine komplett neue Art des Erzählens geschaffen und wahrscheinlich das ungewöhnlichste und extremste, aber auch leserfreundlichste Buch geschrieben, das die Schweiz je gelesen hat. Und er hat für die Schweiz fünfzig Jahre Zeitgeschichte festgehalten. Der Basler Autor hat bereits eine Serie von historischen Romanen und Thrillern geschrieben. Auch mit seinen Drehbüchern für Eurocops und Tatort hatte er grossen Erfolg. Der Bestseller „Das grosse Spiel“, eine Biografie über den Schotten John Law, den Erfinder des Papiergeldes, wurde sogar auf Englisch übersetzt. Trotzdem ist der bekannte Basler Autor nie Teil des literarischen Establishment geworden.

 „Mit Schreiben den Alltag besser ertragen“

Claude Cueni und seine „Script Avenue“ lassen sich nicht schubladisieren. Für den Verleger war es darum eine Herausforderung: In welches Genre könnte man diesen Wälzer stecken? Autofiktion, Autobiografie, historischer Roman, Entwicklungsroman? Für seine Fangemeinde ist das eine unbedeutende Frage. Uns Cueni-Süchtige interessiert nämlich nur eines: Wie geht es in der Script Avenue weiter? Claude Cueni hat mir im Mail geschrieben, dass ihn viele Leser gebeten hätten, einen Fortsetzungsroman zu schreiben. Unvorstellbar aber wahr: Er hat es wirklich gemacht, denn für Cueni ist Schreiben ein Lebenselixier, sozusagen eine lebensunterstützende Massnahme. Das Buch ist bereits geschrieben und heisst Pacific Avenue . Herr Cueni hat mir heute nochmals gemailt und mitgeteilt, dass das Buch bereits im Oktober erscheinen wird. Ich habe mich noch nie so auf den Herbst gefreut.

Das signierte Buch von Claude Cueni ist für die Freitagsbloggers eine grosse Ehre.
Das signierte Buch von Claude Cueni ist für uns Freitagsbloggers eine grosse Ehre.

 

„Script Avenue“ von Claude Cueni, Wörterseh Verlag, Gockhausen, 2014, 638 Seiten, 29.90 Franken

 

Teil 2 der Trilogie: Liebeserklärungen an Basler Autoren

Teil 3 der Trilogie: Liebeserklärungen an Basler Autoren

 

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