Text und Bilder von Jana Kilchenmann
Auf eine besondere Art wird man von Frank Schätzings „Der Schwarm“ mitgerissen. Der Roman wirkt wie ein Sog, dem man sich nur schwer wieder entziehen kann. Besonders, weil es ein Sog ist, der von Katastrophe zu Katastrophe rund um den Globus führt.
Schätzings sechstes Buch gehört in die Gattung Montageroman. Zwischen Prolog und Epilog ist die Geschichte aus fünf Teilen zusammengesetzt. Eine Montage ist es einerseits bezüglich der Sprachebene, da die Geschichte teils vom allwissenden Erzähler und teils von den Protagonisten selbst geschildert wird. Andererseits auch, weil sie durch Orts- und Datumswechsel strikt unterbrochen wird. In diesem Fall sehr hilfreich, weil der Überblick ob all den verschiedenen Handlungssträngen und Personen sonst schnell verloren ginge. Die Ereignisse sind chronologisch geordnet, beginnen am 14. Januar in Peru, als ein Fischer draussen auf dem Meer spurlos verschwindet, und enden am 15 August des gleichen Jahres – mit was sei natürlich nicht verraten.
Im ersten Teil nimmt sich der deutsche Schriftsteller Zeit, um die Katastrophe aufzubauen, als würde er überall Feuer legen. Zunächst befinden wir uns als Leser abwechselnd an zwei Schauplätzen bei zwei der Protagonisten. Der Inuk Leon Anawak ist in Kanada Walforscher und arbeitet nebenbei ironischerweise in einer Whale-Watching-Station, wo er Touristen möglichst nahe zu den Meeressäugern chauffiert. Um zu sensibilisieren natürlich. Doch zur Saison sind weit und breit keine Wale in Sicht, die Boote bleiben leer.
Parallel dazu entdecken Mitarbeiter der norwegischen Ölbohrfirma Statoil eine unglaublich grosse Population einer bisher unbekannten Wurmart, die dabei ist, 700 Meter unter der Wasseroberfläche vor Norwegens Küste den Kontinentalhang zu zerfressen. Sigur Johanson ist Biologe an der Technischen Universität in Trondheim und wird mit der Aufgabe konfrontiert, mehr über diesen zerstörungswütigen Wurm in Erfahrung zu bringen.
Leider sind die Charaktere, die Nebenfiguren genauso wie die Protagonisten, nicht besonders raffiniert gestaltet und haben wenig Tiefe. Man könnte fast sagen, dass sie abgesehen von ihren Funktionen austauschbar sind. Es scheint, als wäre Schätzings einzige Mission die Geschichte an sich gewesen, durch die er seine Figuren 1000 Seiten hindurch quält. Er hat hier eine grandiose Idee umgesetzt und viele wissenschaftliche Fakten über Biologie und die Evolution laiengerecht dargelegt und geschickt mit eingeflochten. Die Recherchen für dieses Buch müssen immens gewesen sein. Dennoch ist es bei dieser Länge ein Manko, dass man mit den Charakteren nicht warm werden kann. Etwas befremdend wirkt auch der fast inflationäre Einsatz der Nachnamen, als wären die Figuren dahinter unwichtig, Hauptsache die Handlung wird von jemandem ausgeführt, damit es weitergehen kann.
Als in Kanada mit einiger Verspätung doch noch die Wale eintreffen, beginnen sich die Ereignisse zu überschlagen. Die sonst sanften Tiere beginnen die Boote anzugreifen und Menschen, die ins Wasser fallen, in die Tiefe zu ziehen. Unweit der Whale-Watching-Station gerät ein Frachter in Notlage, da das Ruder von so vielen Muscheln besetzt ist, dass es sich nicht mehr bewegen lässt. Die Küsten von Costa Rica und Australien werden von Invasionen hochgiftiger Quallen heimgesucht. In Frankreich findet man in einem unbekannten Gallert einen tödlichen Giftstoff, der durch Hummer in Restaurants und ins Abwasser geraten ist. Unterdessen hat auch noch niemand das Wurm-Problem lösen können und als der Kontinentalhang vor Norwegens Küste abrutscht und der dadurch ausgelöste Tsunami einen Grossteil Nordeuropas überschwemmt, muss ein Krisenstab her. Selbstverständlich unter amerikanischer Leitung. Da treffen dann alle Protagonisten, die bisher einzeln für sich mit den Unglücken in Berührung kamen, aufeinander und stehen vor der Frage, mit was sie es hier zu tun haben. Terrorismus? Naturgewalt? Fortan begleiten wir als Leser diesen Krisenstab, der, zuerst abgeschirmt in einem Hotel und später von einem Schiff aus, herauszufinden versucht, wieso sich die Meerestiere so seltsam benehmen.
Auch wenn es beim Lesen fast wütend macht, es ist raffiniert, dass und vor allem wie Schätzing uns zappeln lässt. Denn als der Stab der Lösung auf der Spur scheint, fliegt Anawak in einer Nebenhandlung an die Beerdigung seines Vaters in seinen Heimatort Cape Dorset. Dort kann er sich endlich mit seiner Herkunft auseinandersetzen, mit der er schon sein Leben lang hadert; einer der wenigen berührenden Teile in diesem spannungsgeladenen Buch.
Als New York wegen einer tödlichen Krabbeninvasion zum Katastrophen-Gebiet ausgerufen wird, beginnen die Wissenschaftler des Krisenstabs zu vermuten, dass hinter diesen geballten Angriffen aus dem Meer nicht die Tiere selbst stecken und gleichzeitig dass der Mensch nicht die einzige Krone der Schöpfung ist, die sich auf diesem Planeten entwickelt hat.
Es ist ein überaus spannendes Gedankenexperiment von erschreckender Wahrscheinlichkeit, das Schätzing mit uns macht und wir werden uns unserer unbedeutenden Winzigkeit einmal mehr bewusst. Sicher, man hätte den Roman auch auf knackigen 250 Seiten zu einem Ideenfeuerwerk bündeln können. Die Länge wird an diesem Buch oft vernichtend kritisiert. Doch es hätte derart abgekürzt einfach nicht dieselbe Wirkung. Klar ist es nicht nur angenehm, zu lesen wie irrelevant die Menschen sind und wie daneben wir uns hier benehmen. Wie oben schon kurz angetönt, haben auch die wissenschaftlichen Aspekte einen wichtigen Anteil in „Der Schwarm“. Beispielsweise ist die Suche nach alternativen Energiequellen genauso ein Thema wie die unerforschte Tiefsee oder die Praktiken und Risiken der Öl- und Methanförderung. Und genau dieser Mix zwischen Thriller, Wissenschaft, Korruption der Politik und der Rolle der Menschen, macht den Sog aus, der einem durch die fast 1000 Seiten zu ziehen vermag.
„Der Schwarm“ von Frank Schätzing ist im Februar 2004 beim Kiepenheuer & Witsch Verlag in Köln erschienen, umfasst gebunden 1008 Seiten und kostet ca. 35 Franken.
Im November 2005 hat es der Fischer Taschenbuch Verlag herausgebracht. Als Taschenbuch umfasst der Roman 989 Seiten und kostet 15 Franken.
Nächste Woche reisen wir mit Dominique Götz nach Japan.