Unterwegs

Die hohe Kunst der japanischen Heiratsvermittlung

Text und Bilder von Dominique Götz

Es gibt Bücher, die einen ein Leben lang begleiten und die man mehr als einmal liest. So ein Buch ist für mich der Familien-und Gesellschaftsroman „The Makioka Sisters“ von Junichiro Tanizaki. Ein japanischer Klassiker aus den 40er-Jahren, der ganz im Stile der ästhetischen Literatur in einer eleganten Sprache im Wandel der Jahreszeiten dahin rauscht. Im Originaltitel unter „Sasame Yuki“, „Feiner Schnee“ erschienen – eine poetische Anspielung an die Reinheit, Schönheit und Vergänglichkeit der japanischen Kultur – ist dies ein Buch für Japanliebhaber und alle, die es werden möchten.

 Junichiro Tanizaki erzählt die Geschichte des gesellschaftlichen Abstiegs einer Kaufmannsfamilie aus Osaka. Da die Eltern früh verstorben sind, wird der konservative Ehemann der ältesten Schwester Tsuruko Familienoberhaupt und hat die Aufgabe, die beiden jüngsten Schwestern zu verheiraten. Über Jahre hinweg werden Heiratsangebote für die zweitjüngste Schwester Yukiko abgelehnt, weil die Heiratskandidaten entweder zu einfältig, zu arm, zu alt sind, oder eine Affäre verbergen wollen. Immer findet sich ein Grund. Irgendwann – ganz im Stil der Buddenbrocks – wechselt die Überheblichkeit in Verzweiflung. Denn Yukiko – im für Frauen unglücklichen Jahr des Widders geboren – kommt ins schwierige 33. Lebensjahr.

 

Verhängnisvolles Warten

Und so reiht sich denn ein aussichtsloser Miai an den Nächsten. Ein Miai (mimasu – sehen /aimsu – treffen) wird von Heiratsvermittlerinnen arrangiert und ist ein erstes formelles Treffen, am dem sich die Heiratskandidaten und deren Familienangehörigen das erste Mal begutachten. Rund um diese Treffen wird fleissig recherchiert und das, wie damals üblich, auch mit Hilfe von Privatdetektiven. Darum droht jedes Mal die Gefahr, dass die Gegenseite herausfinden könnte, dass die jüngste Schwester Taeko mit dem verwöhnten Sprössling einer wohlhabenden Familie eine Affäre hat. Anstatt jedoch die energetische Taeko mit ihrem Verehrer zu verheiraten, lässt das Familienoberhaupt aus Tokyo die Beiden über ein Jahrzehnt lang schmoren. So kreiert die Jüngste parallel zu Yukikos Miais, Skandal um Skandal. Dennoch bringt die begabte Famme fatale viel Freude ins Haus, wie beispielsweise mit den japanischen Tanzvorstellungen, in denen sie die Hauptrolle spielt.

Der Hauptteil der Geschichte spielt sich in einem typisch japanischen Haus in Ashiya bei Kobe ab, wo die drei jüngeren Schwestern zusammenleben. Der Ausgangspunkt ist Sachiko (Kind des Glücks), die mit ihrem Ehemann Teinosuke versucht, die Probleme der unverheirateten Schwestern aus der Welt zu schaffen. Die fragile Yukiko (Kind des Schnees) wartet stoisch, eigenwillig und verschlossen auf den richtigen Heiratskandidaten. Sie ist der Inbegriff der traditionellen japanischen Frau, verhält sich ergeben und kümmert sich fürsorglich um die kranken Familienangehörigen. Dennoch wird man den Eindruck nie los, dass ihre Passivität etwas Aggressives und Verweigerndes hat und sie bis zuletzt ihren Willen durchsetzen kann.

Das einzige Ziel der Familie Makioka: ein japanisches Ehebett für die beiden jüngsten Schwestern
Aus „Living in Japan“: ein traditionelles Ehe-Schlafzimmer

Ganz im Gegensatz dazu verkörpert die kreative Taeko das moderne Japan. Taeko (Taenaru: charmant, klug, reizend, seltsam, komisch) kämpft für ihre Unabhängigkeit und mietet ein Atelier, um Puppen zu nähen. Sie kümmert sich wenig um japanische Konventionen. Frustriert wie sie ist, opponiert sie gegen das Familienoberhaupt und lässt sich mit Männern der untersten Gesellschaftschicht ein. Obwohl sie klug ist und ihr Leben selbst in die Hand nimmt, gelingt ihr nur wenig und sie wird schliesslich aus der Familie verbannt. Und das ist auch das Dramatische: Man hofft und bangt um das Glück der zwei Schwestern. Man ärgert sich über sie und hat gleichzeitig Mitleid mit ihnen. Denn Beide sind Opfer der gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit und reagieren so gut darauf, wie sie eben können. Dabei treibt wahrscheinlich die typisch japanische Mentalität der Familie Makioka, Entscheidungen hinauszuzögern oder auf andere Familienmitglieder abzuschieben, so manchen Leser zur Weissglut. So auch deren Unfähigkeit schnell und flexibel zu reagieren. Sachiko empfindet eine kurzfristige Einladung, als so überraschend, wie ein aufgescheuchter Schwarm Vögel: „Sachiko thought it a bit undignified to accept an invitation as startling in its way as a convey of birds flying past at one’s feet.“

Tanzendes Sushi und knarrende Obis

Zwei
Zwei elegante Japanerinnen im Kimono mit gut sichtbarem Kimonogürtel, dem „Obi“, fotografiert aus dem Fotobuch „Living in Japan“ von Peter Guntli

Die Familiengeschichte ist eingebettet in die politischen und kulturellen Ereignisse der Zeit zwischen 1936 bis 1941, also vor dem Ausbruch und zu Beginn des 2. Weltkrieges. Die grossen Geschehnisse der Welt bilden aber nur einen fernen  Rahmen. Tanizaki schreibt vorzugsweise und  detailliert über den japanischen Tanz und die Poesie,  knarrende Obis, glänzende Kimonostoffe, tanzende Sushi-Fische, blühende Kirschbäume oder das Sommerspektakel der Leuchtkäfer.

It was always a trial for Yukiko to have to eat as fast as the others. She liked the „dancing sushi“….the prawns that were still moving when they were set out to be eaten…“                                               

Aufwühlend sind Tanizakis Exkurse über inkompetente medizinische Behandlungen von Krankheiten und deren fatalen Folgen. Mehrere Kapitel widmet der Autor ausserdem der Jahrhundertflut des Sumiyoshi Flusses in Kobe. Parallel dazu beschreibt er unter anderem das Leben der deutschen Nachbarsfamilie Stolz und spannt so den Bogen zu den Problemen des sich ausbreitenden Krieges. Dieses kunterbunte Gemisch aus historischen Fakten, japanischen Traditionen und starken Figuren bildet das Triebwerk für die spannungsgeladene Dramaturgie dieses umfangreichen Werkes.

 

Durch die Augen einer schönen Frau

Tanizaki, eindeutig ein Traditionalist, Japan- und Frauenliebhaber, schafft es, mit seinem bildhaften Schreibstil und seinen erotischen Anspielungen beim Leser Emotionen zu wecken und die Phantasie anzuregen. Mit seinem Stilelement der sanften Ironie entschärft er die Grausamkeit des Schicksals der zwei unverheirateten Schwestern und bringt statt dessen gesellschaftskritische und humorvolle Elemente ein. Amüsant ist beispielsweise die Obsession der Schwestern mit Vitamin B-Spritzen: „I feel a little short on B“, sagen sie immer, wenn „Beri-Beri“ in der Luft ist, gemeint sind Vitamin-B Mangelerscheinungen, die damals üblich waren. Etwas übertrieben wirkt zuweilen die Vorliebe des Autors für Kyoto-Schönheiten und kindlich-dünne Frauenkörper; bereits 1924 veröffentlichte er mit „Naomi“ einen Lolita-ähnlichen Kultroman.

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Aus „Living in Japan“: Haus und Garten bilden eine Einheit

Auf den ersten Blick wirkt Tanizakis Erzählweise konventionell. Er beschreibt chronologisch vor der wunderschönen Kulisse der sich entfaltenden Natur die Geschehnisse. Ab und zu geben Briefe oder Gedichte Aufschluss über das Denken und Fühlen der Protagonisten. Ansonsten ist Sachiko die einzige Figur deren Innenleben sich dem Leser offenbart. Ihre Sorgen und Ängste, insbesondere ihre Schuldgefühle über die Unfähigkeit den beiden Schwestern zu helfen, begleiten sämtliche Aspekte der Geschichte. Der Leser sieht so alles durch die Augen einer gut behüteten Frau, die nie aus Japan herausgekommen ist und für die sogar Tokyo eine fremde Stadt ist.

„…Sachiko’s life was if anything too peaceful, too lacking in storms and trials. The unsettling agents had always been her sisters. Not that they were a bother to her: she was always delighted at the color they gave the life of the family. „

 

„Sasame Yuki“ im Strudel der Zeit

Etwas zynisch musste das Verhalten von Junichiro Tanizaki gewirkt haben, der sich im Schutze Ashiyas mit den Heiratsvermittlungen der Oberschicht befasste, während rund um ihn der Krieg tobte und 1945 – nach dem Abwurf der Atombomben auf Nagasaki und Hiroshima – Japan kapitulierte. Der erste Teil des Buches wurde 1943 publiziert und von der Militärzensur verboten, weil es, wie die Behörde befand, nicht zur politischen Situation passen würde. Der Roman ist eine Anlehnung an „Die Geschichte des Prinzen Genji“, ein Werk der schöngeistigen Frauenliteratur der Heinan Zeit, das im krassen Gegensatz stand zur Tradition des japanischen Samuraigeistes des Imperialismus der damaligen Zeit. 1948 erschien der komplette dreiteilige Roman „Sasame Yuki“. Er wurde 1957 als „The Makioka Sisters“ ins Englische übersetzt und avancierte danach zum beliebten internationalen Klassiker. Junichiro Tanizaki (1886-1965) veröffentlichte unter anderem elf Romane und sein Name steht heute für den bedeutendsten Literaturpreis Japans, den „Junichiro Tanizaki Preis“.

 

Sasame Yuki wurde 1983 von Ken Ichikawa verfilmt: ein kitschiger Kostümfilm, der mit schwülstiger Musik unterlegt ist, das Drehbuch und die Dialoge sind jedoch getreu dem Buch von Tanizaki, erhältlich mit englischen Untertiteln.

The Makioka Sisters by Junichiro Tanizaki, hervorragende Übersetzung aus dem Japanischen ins Englische von Edward G. Seidenstricker, Taschenbuch im Vintage Verlag, 544 Seiten, Preis 18.90 Franken

Die Schwestern Makioka von Junichiro Tanizaki, ins Deutsche übersetzt von Sachiko Yatsushiro und Ulla Hengst, Taschenbuch im Rowohlt Verlag 1964, 591 Seiten, nur noch im Antiquariat erhältlich für 40-70 Euro

 „Die Schwestern Makioka“ lieferte ausserdem den Stoff für diverse Theateraufführungen im deutschen Sprachraum.

Für einen Besuch im Tanizaki Museum in Ashiya drück hier

Nächste Woche geht es mit Daniel Meister nochmals nach Hong Kong.

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