Geschichten aus Mikronesien
Text und Bilder von Dominique Götz
Der japanische Schriftsteller Ikezawa Natsuki verbrachte seinen ersten Auslandaufenthalt in den Siebzigerjahren auf einer Insel im Westpazifik und las zu dieser Zeit „Hundert Jahre Einsamkeit“ von Gabriel Garcia Marquez. Beides hat ihn zutiefst beeindruckt und ihn inspiriert seinen Roman „Aufstieg und Fall des Macias Guili“ zu schreiben. Entstanden ist eine Geschichte, die überquillt mit Elementen aus Mythen, Märchen, Krimis, Forschungsberichten und historischen Abhandlungen. Dabei wird die Grenze zwischen Fiktion und Fakten verwischt. Ein Roman voller Anspielungen, Doppeldeutigkeiten und Symbolik, der sich ins Genre des magischen Realismus einordnen lässt. Nach seinem Erscheinen Anfang der Neunzigerjahre wurde Ikezawas Werk als „ungewöhnlichster Roman der jüngeren Zeit“ bezeichnet und erhielt den wichtigsten japanischen Literaturpreis, den „Tanizaki Junichiro-Preis“.
Vom Waisenkind bis zum Präsidenten
„Ungewöhnlich“ ist denn auch das treffendste Wort, um diesen ausufernden Entwicklungsroman zu umschreiben. Ein untersetzter, dunkelhäutiger Autokrat regiert in einer weissen Präsidentenresidenz. Dort brütet er über Akten und entwirft Strategien, wie er die Infrastruktur für die 70’000 Einwohner des Inselstaates Navidad, bestehend aus den drei Inseln Melchor, Baltasar und Caspar, finanzieren könnte. Dieser Autokrat heisst Macias Guili und konnte immer auf die Sympathien von Gönnern zählen und sich dadurch vom armen Waisen bis zum Besitzer eines Supermarkt-Imperiums hocharbeiten. Seine Lehrjahre verbrachte er in Japan, wo er von seinem Mentor Ryuzoji in die Mechanismen des Handels eingeführt wurde: „Er lernte, dass die Welt aus Verbindungen zwischen Menschen bestand, ebenso wie er lernte, dass die Welt von Dingen und Geld in Bewegung gehalten wird.“
Dies prägte ihn und als er nach Navidad zurückkehrte, wurde er erfolgreich mit dem Import und Verkauf von Instant-Nudelsuppen. Er wurde vom Präsidenten Cornelius unter die Fittiche genommen und nach dessen Tod zum zweiten Präsidenten des Inselstaates gewählt. Guili möchte Navidad nach zwanzig Jahren amerikanischer Verwaltung wieder Japan annähern. Er möchte „die Hamburger durch Reis ersetzen“. Und die Pläne der Japaner, ein Öllager in einem unberührten Riff zu bauen, kommen ihm dabei sehr gelegen. Dem älteren Autokraten, der seine Macht stetig ausbaut und das Parlament ausschaltet – immer zum Wohle des Volkes natürlich – sind alle Mittel recht. Doch irgendwann erfährt das Volk die Wahrheit über seine skrupellosen Machenschaften und entzieht ihm das Vertrauen. Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten.
Von einem Netz aus undurchsichtigen Erzählern
Die Stärke des Romans ist sein anspruchsvoller Aufbau. Zwanzig Jahre lang, so erzählte der Autor während seiner Lesung im Literaturhaus Basel, habe er benötigt für die Konzeption, Recherche und Schreibarbeit für dieses Buch. Nicht verwunderlich, denn der Roman wird von einem komplexen Netz an Erzählperspektiven diverser Figuren getragen. Dabei ist man sich als Leser nie ganz sicher, wer jetzt eigentlich spricht. Es gibt Passagen, wo plötzlich während einer Geschichte ein einziges „ich“ oder „wir“ auftaucht. Das ist raffiniert, denn es verunsichert den Leser und erhöht effektvoll die Spannung. Oder es gibt die Gespräche der Einheimischen, die sich auf der langen Bank in der Hauptstadt Baltasars treffen, wo sie Neuigkeiten austauschen und Gerüchte verbreiten. Und in jedem Kapitel wird die Erzählung jäh durch einen Bus-Report unterbrochen. Es handelt sich dabei um einen Bus mit japanischen Beamten, der auf mysteriöse Art verschwunden ist und an den ungewöhnlichsten Orten auftaucht. Diese Reporte sind sehr witzig und eigenwillig. Denn der Bus entzieht sich komplett der Kontrolle des Präsidenten.
Von Cup-Noodles bis zum I.W. Harper 12 Yo
Der Roman ist einerseits eine Liebeserklärung an die japanische Kultur, insbesondere an das japanische Essen. Der Präsident pflegt einen japanischen Lebensstil und seine Gemächer sind mit Tatami (Strohmatten) ausgelegt und mit einem Ofuro (japanischen Bad) ausgestattet. Ausserdem wird Macias Guili von einer ergebenen japanischen Haushälterin versorgt und bekocht. Andererseits enthält Ikezawas Roman viele gesellschaftskritische Elemente. Er kritisiert beispielsweise die Kolonialisierung in Mikronesien und die Überheblichkeit der Japaner gegenüber den „Insulanern“. Ausserdem hinterfragt er die Konsumgesellschaft. Die zufriedenen Einheimischen hatten immer genug zu essen. Nun bringt aber Macias Guili, diese Cup-Noodles (Instant-Nudelsuppen) ins Land und lehrt die Inselbewohner, in seinem Supermarkt Dinge zu kaufen, die sie eigentlich nicht benötigen.
Es ist interessant, dass Ikezawa Natsuki schon Anfang Neunzigerjahre, als Japan bewundert wurde für seine erfolgreiche Wirtschaft, die luxuriösen Warenhäuser, Autos, Elektro- und Computerwaren, die Konsumgesellschaft kritisierte. Er hat auch als einer der Ersten realisiert, dass chemische Geschmacksverstärker, wie das Glutamat die asiatische Küche verderben. Ausserdem macht sich der Autor lustig über die Fixierung auf Markenartikel. So ist beispielsweise das Schwulenpärchen Jolly und Ketch total abhängig vom Whisky der Marke „I.W. Harper 12 Yo“. All diese Kritik kommt mit einem liebevollen und sanften Humor daher, dem typischen Ikezawa-Humor eben, der vielleicht das prägnanteste Stilelement des Autors ist, abgesehen von seiner kreativen Fantasiekraft und seiner unbändigen Lust am Erzählen und seiner Passion für naturwissenschaftliche Fakten. Wobei er sich vom Hundertsten ins Tausendste schreibt. Bis es manchmal unerträglich wird, weil sich der Haupterzähler immer wieder wiederholt.
Von Sexualität und starken Frauen
Im Roman geht es nicht nur um Politik, Macht und Geld, sondern es geht auch um Sexualität. Aber nicht im erotisch-romantischen Sinne, sondern es geht um die Bedeutung der Sexualität in unserer Gesellschaft oder das sexuelle Verhalten des Mannes. So ist Angelina, die philippinische Geliebte und Partnerin des Präsidenten, die Besitzerin des einzigen Bordells der Inseln, das sie erfolgreich und mit finanzieller Hilfe von Macias aufgebaut hat. Und somit hat der Autor für den Präsidenten einen guten Beobachtungsposten für seine Studien geschaffen. Dabei ist auch das Thema Vergewaltigung wichtig. Macias Guili ist überzeugt, dass seine Mutter von einem Japaner, der in einer Bonito-Fischverarbeitungsfabrik arbeitete, vergewaltigt wurde. Er denkt, dass, auch falls dieser Mann seine Mutter nicht mit Gewalt genommen hätte, er sie dennoch durch die Situation seines höheren Status vergewaltigt hat. So ist also der Präsident sinnbildlich ein Produkt der Unterdrückung der Japaner.
In Ikezawas Geschichten sind es immer die Frauen, die ergeben und intelligent die Probleme aufräumen, welche von Männern verursacht wurden. Wie schon in seinem letzten Roman „Schwere Blumen“ ist die mystische Kraft der jüngeren Schwester von grösster Bedeutung. In diesem Roman wird sie durch eine Schamanin verkörpert, die sich der Probleme des Inselstaates annimmt und das Böse besiegt. Wer sich für die Kulturgeschichte der Mirkonesischen Inseln und seiner Menschen interessiert , sollte dieses Buch unbedingt lesen. Und wer gerne Bücher liest, die literarisch überzeugen und einem bis zur letzten Seite immer wieder überraschen, dem sei dieses Buch wärmstens ans Herz gelegt. Wer sich ausserdem für ein Buch interessiert, dessen Sprachmelodie sich anhört, wie ein Kabuki -Theater (japanische Oper) in neun Akten mit einem vielfältigen Figurenkabinett, das langsam an Kokospalmen und Korallenriffen vorbeizieht, der sollte es beim Buchhändler bestellen.
Aufstieg und Fall des Macias Guili von Ikezawa Natsuki, übersetzt aus dem Japanischen von Otto Putz, 2002, 504 Seiten, edition q & Japan Edition, ISBN 3-86124-540-X, ca.40.50 Franken
The Navidad Incident: The Downfall of Macias Guili, Ikezawa Natsuki, translated by Alfred Birnbaum, , 2012, pocket-book, Viz Comics Edition, 28.90 Franken
Erstveröffentlichung in Tokyo, im Verlag Shinchosha, 1993 unter dem japanischen Originaltitel: Mashiasu Giri no shikkyaku
Nächste Woche bleiben wir in Asien und reisen mit Daniel Meister nach Hong Kong.