Reiseberichte

Eine Selbstbeurteilung: Wie kerouac bin ich?

Text und Bild von Daniel Meister

Wer mich kennt oder meine letzten Posts auf diesem Blog gelesen hat, wird ahnen, dass ich nicht nur ein Faible für Bücher im Allgemein habe, sondern momentan vor allem eins für Bücher von Jack Kerouac. Der Schreibstil und der Lebenswandel von Kerouac & Co. lassen sich mit einem Wort umschreiben: Unkonventionell. Und weil die Zeit zum Jahresbeginn eine Zeit der Selbstbeurteilung und der Standortbestimmung sein soll, führt mich das als Kerouac-Leser zur Frage, ob ich unkonventionell bin und wenn ja, wie sehr? Wie „kerouac“ bin ich eigentlich?

Es gibt ein paar Gemeinsamkeiten: Ich höre gerne Jazz. Ich lese gerne radikale Bücher. Ich mache mir aus Normen und Status nicht besonders viel. Ich schreibe am liebsten so wies mir grade passt, Apostrophs können mir da gestohlen bleiben, die meisten anderen Satzzeichen auch, am liebsten vorwärts ohne Punkt, dafür mit umso mehr Kommas, die den Text vorwärtstreiben, wie ein aufgedrehter Jazzdrummer seine Band in einem Kellerclub in Harlem, alles klar soweit, ja, super, also wenn dieser Text von Kerouac wäre, ginge der Satz jetzt noch zwei Seiten lang so weiter, mindestens, nur so nebenbei erwähnt, damit ihr ein Gefühl für seine Schreibe bekommt, immerhin geht’s in diesem Blog ja genau darum, verdammt, jetzt ist doch ein Apostroph reingerutscht, beim Wort „geht’s“, weiter oben, und vorhin gleich nochmals, scheiss Autokorrektur, ich sollte eine Schreibmaschine kaufen, wo kriegt man die heute noch her, Schreibmaschinen, meine ich, im Brockenhaus vielleicht und überhaupt, wo gibt’s noch gute Brockis?… ächz. Aber immerhin schon ein paar Gemeinsamkeiten. Noch mehr: Mein Kleidungsstil schwankt je nach Tagesform zwischen eindeutig schlampig und eventuell doch nur alternativ. In meinem Bekanntenkreis wimmelt es von Möchtegern-Intellektuellen, KünstlerInnen, MeditierInnen, Musikern, Yoga-Tussis, Gays, Möchtegern-Gays, Selbstfindern, Querdenkern, Dichtern, Hyperaktiven, Hypersexuellen, Mode-Schnurrbartträgern und anderen Nonkonformisten. Die meisten von ihnen belästigen einen ohne die Spur eines schlechten Gewissens mit nächtelangen begeisterten Monologen über ihre Buch-, Kunst- und Musikprojekte. Was regelmässig zu chaotischen Gesprächssituationen führt, weil meistens mehrere Leute ihre Monologe gleichzeitig halten. Wie bei den Beatniks. Und dann wäre da noch das Reisen. Ich bin gern unterwegs. Am liebsten einfach: Mir reichen ein ausgefranster halbleerer Rucksack und zehn Stutz für vier Tage.

IMG_2528 - KopieSo viel zu den Gemeinsamkeiten. Bevor ich mich hier aber endgültig als Lifestyle-Kopisten oute: Wie „kerouac“ bin ich jetzt deswegen? Beziehungsweise, wie „kerouac“ sind wir alle? Immerhin trifft so ziemlich alles oben Geschriebene heute plus minus auf jeden und jede zu. Selbst die wirklich Normalen haben wenigstens einen karrierefaulen Nachbarn, einen modisch zweifelhaften Cousin oder einen alternativen Hamster. Whatever.

Für Kerouac und die Beatniks war das anders; sie waren Aussenseiter. Man wollte nichts mit ihnen zu tun haben, sie schon gar nicht imitieren. Um zu verstehen, wie radikal die Beatniks für ihre Zeitgenossen waren, muss man sich erst mal bewusst machen, wie eng die gesellschaftlichen Grenzen in den USA ihrer Zeit gesteckt waren: Der kalte Krieg kam gerade richtig in die Gänge. Wer sich nicht anpasste, galt schnell als Gesellschaftsschädling oder Kommunist oder landete in einer geschlossenen Psychiatrie, oder gleich alles zusammen. Im Süden galt die Rassentrennung. Wer sich wie die Beatniks bei der Wahl seiner Freunde nicht von der Hautfarbe und anderen Äusserlichkeiten aufhalten liess, den konnte das rasch in Teufels Küche bringen. In Jazzbars zu gehen war in etwa so daneben wie heute in alternativen Kreisen der Besuch des SVP Puurezmorge. Wer sich zu einer vorehelichen Beziehung hinreissen liess, riskierte, dass er die Alte dann auch heiraten musste. Man ging sonntags zur Kirche, war stramm patriotisch, arbeitete das Leben lang beim gleichen Betrieb – man war eben anständig. Noch 20 Jahre nach den Beatniks verprügelte man in weiten Teilen des Landes der guten Ordnung halber Jugendliche, weil sie Blue-Jeans trugen.

Wer heute für seinen Bruch mit Konventionen noch ein paar aufs Maul will, muss sich da deutlich mehr Mühe geben. Das lässt es erstmal so aussehen, als wäre es heutzutage sehr einfach, unkonventionell zu sein, „kerouac“, eben. Und das hat durchaus sein Gutes. Immerhin können wir uns heutzutage verlieben in wen oder was auch immer wir wollen. Wir können unsere Bluejeans hauteng tragen oder sie irgendwo unter den Kniekehlen rumhängen lassen, ohne dass das auch nur irgendwer registriert. Wenn wir uns für Jazz begeistern, rufen die Nachbarn deswegen nicht die Polizei, sondern sind eher dankbar für unseren konservativen Musikgeschmack. Klar, dass wir uns, ehrgeizig und individualistisch, wie wir sind, trotzdem Mühe geben, uns abzuheben. Also lassen wir uns eimerweise nichtssagende, hässliche Kritzeleien auf unsere schmächtigen Körper tätowieren. Schwafeln über Kunstgalerien, Kellerclubs, besetzte Häuser. Kultivieren unsere Bärte, tragen Retrobrillen, lesen damit möglichst publikumswirksam möglichst durchgeknallte Bücher. Meditieren mit unseren nonkonformen Freunden um die Wette. Feiern in Locations, in die wir ohne diese sorgsam zurechtgelegten Äusserlichkeiten gar nicht reinkämen. Weil wir erst gar nicht von ihnen erfahren würden. Wir tun wirklich alles, um dazu zu gehören. Und wir sind damit nicht die einzigen. Die Andern tun es alle auch. Kurzum: Unkonventionell sein ist die neue Konvention. Unkonventionell sein ist ein Livestyle, ein 24-Stunden-Job, ein Muss-Kriterium für die Kandidaten von „The Voice of Germany“. Jack Kerouac hätte wahrscheinlich spätestens bei der Un-Konvention als 24-Stunden-Job Schreikrämpfe gekriegt.

Und genau deshalb sind wir eben doch nicht so besonders „kerouac“. Kerouac und seine Leute wollten eben gerade nicht dazugehören. Sie waren Punks, Randständige, die aussätzige Schreihals-Avantgarde: Ungemütlich, gefährlich, kriminell, subversiv, immer in Bewegung. So ganz anders als wir, zumindest ganz anders als ich. Ich bin Jazzliebhaber, in letzter Zeit ziemlich stationär, sortiere in meiner ordentlichen, warmen Wohnung die Fotos der letzten Reise. Ich lese sogar Bücher, die nach Jazz klingen. Viel kleinbürgerlich gemütlicher geht’s wirklich nicht. Würde Jack heute leben, er fände Jazz das Hinterletzte und Kerouac kacke. Wahrscheinlich wäre er gerade high auf einem Opium-Crack Gemisch und würde „Feuchtgebiete“ oder Karl Marx rückwärts lesen.

 

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