Unterwegs

And the Land Lay still

 Bilder und Text von Dominique Götz

Mit seinem Roman „And the Land Lay Still“ nimmt uns der schottische Autor James Robertson auf eine fünfzigjährige Zeitreise durch sein Land. Unterwegs rezitiert er schottische Gedichte und schildert die Sorgen und Hoffnungen von Fotografen, Journalisten, Kriegsveteranen, Aussteigern, Alkoholikern, Minenarbeitern, Politikern, Geheimagenten und Geschichten-Erzählern. Entstanden ist ein Entwicklungsroman über Schottland vom Feinsten.

„And the Land Lay Still“ ist meine schottische Sommerentdeckung. An einem Regentag in Oban habe ich dieses Taschenbuch im „Waterstones“ Buchladen aus dem Bestseller-Gestell geklaubt. Dieses Buch hat mich bis weit in den Herbst hinein begleitet. Denn die Medien berichteten während der letzten Monate fast täglich über die Wahlen zur schottischen Unabhängigkeit. Und dieser Roman liefert den gesamten Stoff dazu: die Geschichte und Politik Schottlands von 1950 bis 2000. Wichtige Themen sind ausserdem die Tradition des Storytelling und die schottische Sprache. Einige Dialoge von Arbeitern und älteren Personen hat Robertson im schottischen Dialekt geschrieben. Das verleiht der Geschichte viel Authenzität, wird es aber schwierig machen, dieses Buch in andere Sprachen zu übersetzen.

Der Roman zeigt mit Panoramablick „the big picture“ und beschreibt dabei bis ins kleinste Detail Menschliches und Allzumenschliches: Das Streben nach Liebe, Anerkennung und Unabhängigkeit. Geschichtliche Ereignisse dienen als Zeitkoordinaten für die Leser, wie beispielsweise die Krönung von Elisabeth ll. 1953, die zwei britischen Wahlen 1974, die Weltmeisterschaft in Argentinien 1978, die Referenden zur Dezentralisierung (Devolution) 1979 und 1997, der britische Bergarbeiterstreik 1984, die Lockerbie Affäre 1989 und die Ära Thatcher 1979-1990.

Wirklich beeindruckt hat mich die komplexe und dichte Konstruktion dieses Romanes. Das Buch besteht aus sechs Teilen. In jedem Teil verlaufen die Erzählungen auf verschiedenen Zeitachsen. Richtige Kapitel gibt es nicht, eher Abschnitte. Die Hauptgeschichte wird im szenischen Präsens erzählt, was sehr viel Spannung und Nähe erzeugt. Es ist faszinierend, wie James Robertson die grosse Anzahl an Protagonisten verlinkt hat, ohne dass es inszeniert oder künstlich wirkt. Sie bewegen sich mal schneller, mal langsamer, mal rückwärts, mal vorwärts entlang der schottischen Zeitachsen und ihre Schicksale verweben sich ganz natürlich zu einem grossen farbigen Geschichtenteppich.

 

„…The Angus Angle…“

Der Hauptprotagonist Mike Pendreich, ein homosexueller Fotograf und „Drifter“, versucht aus dem Schatten seines Vaters, dem berühmten Fotografen Angus Pendreich, zu treten. Diese Vater-Sohn-Geschichte bildet die Hauptachse des Romans. Mike verkriecht sich nach dem Tod seines Vaters aufs Land und archiviert dessen riesige Fotosammlung, um eine Ausstellung vorzubereiten über den „special Angus-Angle“.Diese Fotos tauchen im Roman immer wieder auf. Angus‘ Kamera zoomt rücksichtslos und kunstvoll auf Nebenschauplätze bekannter Ereignisse: Beispielsweise während des Besuchs von Elvis Presley am Prestwick Airport 1960 oder dem Diebstahl des Krönungssteins, dem „Stone of Destiny“, aus der Westminster Abbey 1950. Angus ist immer unterwegs und auf der Suche nach neuen Bildern. Für seine Unabhängigkeit opfert er seinen Sohn und seine konservative Ehefrau. Da die Mutter überfordert ist, wird Mike ins Internat abgeschoben und ist somit schon früh auf sich selber gestellt.  Auf eine einfühlsame Weise beschreibt Robertson, wie Mike seine Homosexualität entdeckt und lebt. Er schreibt detailliert und sehr schön über Mikes „erstes Mal“, sein „coming-out“ und über seine diversen Liebesbeziehungen.

 

„…An old friend of a lot of folk…“

Parallel entlang der Hauptachse bewegt sich Jean Barbour, die Ex-Geliebte von Angus, eine Freundin und Ersatzmutter für Mike. Jean ist ein Freigeist und sozusagen die Mutter aller Geschichten. Bei ihr treffen sich die verschiedensten Charakteren, deren Wege sich später wieder kreuzen. Mit ihren Geschichten und ihrer Stimme versammelt sie ganz Schottland bei sich zu Hause:

„A voice thick with years of storytelling, hoarse from the speaking and smoking but not harsh; knowing and kind, mostly, though the cutting remark and the quick putdown are not absent from her repertoire….Jean could keep that crowd entranced, and not just because the stories she told were good, but because of the voice she told them in.“

Hier trifft man auch zum ersten Mal den Antagonisten von Mike Pendreich: James Bond, den Namensvetter von OO7, der für den britischen Geheimdienst arbeitet. James Bond ist Journalist und Geheimagent und wird später Privatdedektiv und Alkoholiker. Robertson widmet ihm und dem britischen „Secret Service“ den ganzen dritten Teil des Buches. Dazu schrieb der Autor lange und bewegende Dialoge, die Bond mit Edgar, einem imaginären Troll führt, um seine schmutzige Schnüfflerarbeit beim „Secret Service“ zu verarbeiten.

 

„…A pocket full of stones…“

Aufwühlend ist die Figur von Jack Gordon, einem Kriegsveteranen. Er hat eine negative Einstellung zum Leben und glaubt nicht an die Zukunft seines Landes. Er hasst die Briten, denen er vorwirft, dass sie die Schotten schon immer als Kanonenfutter missbraucht hätten: „We have always been cannon fodder for English wars.“  Jack verbringt die Freitagabende im Pub mit seinem Freund Don Lennie. Zusammen können sie über ihre belastenden Kriegserlebnisse sprechen, die von der Gesellschaft tot geschwiegen werden. Eines Tages verlässt Jack ohne Vorwarnung seine Familie und beginnt durch Schottland zu wandern. Am Ende jedes der sechs Buchteile steht in kursiver Schrift eine poetische Geschichte in der Jack, der Tramp, in der Du-Perspektive aus seinem Wanderleben erzählt. Diese Geschichten sind Fabeln zwischen Traum und Wirklichkeit und eine Anlehnung an die schottischen Mythen. In einer dieser Geschichten trifft der Tramp auf Mike und seinen Vater. Er lässt sich von Angus fotografieren und schenkt Mike einen Stein. Er hat immer die Jackentasche voller Steine, die er Kindern verschenkt. Und diese Steine sind Metaphern für Geschichten:

„You kept a pocket full of stones. The stones had no purpose, they were just a story. You kept the story going. That was what you had to do. You picked the stones up where you found them and you took them on, and every so often you laid them down again. You were making a pattern but you didn’t know what the pattern was. You didn’t know where you were in the pattern or where or how it would end.“

 

“ …It felt like floating or drifting…“

„And the Land Lay Still“ ist vielschichtig und überrascht immer wieder durch den unerwarteten Richtungs-und Szenenwechsel der eigenwilligen Protagonisten und ihren Beziehungen zueinander. Das ist anspruchsvoll, darum musste ich mir während des Lesens  eine Liste mit Namen zulegen, damit ich mir merken konnte, wer zu welcher Familie oder Gruppe gehört. Insbesondere weil sich am Ende alle wichtigen Personen an der Fotoausstellung zu Ehren von Angus Pendreich versammeln.

James Robertson hat 2003 und 2004 zwei schottische Buchpreise gewonnen. Das Preisgeld ermöglichte es ihm, vier Jahre lang an diesem Roman zu arbeiten und viel zu recherchieren. Der 56-jährige Schriftsteller überzeugt mit seinem Schreibstil und beherrscht alle Kunstformen der Literatur: raffinierte Perspektivenwechsel, innere Monologe, fiktive Dialoge, Bewusstseinsströme, Briefe, Zeitungsartikel und Reden. Sehr bereichernd sind die zahlreichen Zitate aus schottischen Gedichten und Liedern. „And the Land Lay Still“ ist ein Epos, dessen schottische Sprachmelodie noch lange in mir nachhallen wird. Ein grosses Leseerlebnis, dass ich am liebsten mit dem Zitat des ersten Satzes dieses Romans beschreibe:

„Sometimes it felt like walking, sometimes like flying. Or it felt like floating, or drifting, or like nothing at all.“  (The tramp)

„And the Land Lay Still“ von James Robertson, Taschenbuch, Penguin Books 2011, 671 Seiten

P.S.: Das Buch kann man bei mir ausleihen. Andrew ist der nächste, der dieses Buch lesen wird.
P.S.: Das Buch kann man bei mir ausleihen: Andrew ist der Nächste, der „And the Land Lay Still“ lesen wird.

 

Nächsten Freitag geht’s mit Daniel Meister weiter nach Kolumbien.

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